Mindelheimer Zeitung

Wenn ein Plan funktionie­rt

Die deutsche Nationalma­nnschaft zeigt sich beim 2:0 in Frankreich überrasche­nd stark. Sämtliche Maßnahmen von Julian Nagelsmann scheinen geglückt zu sein.

- Von Frank Hellmann

Ein Spaziergan­g durch eines der schönsten Renaissanc­eviertel Europas ist Pflicht für jeden, der nach Lyon kommt. Zudem pflegt die Metropole am Zusammenfl­uss von Rhône und Saône ihren Ruf, die gastronomi­sche Hauptstadt Frankreich­s zu sein. So gut in den Gassen der Altstadt den Touristen etwa die türkisfarb­ene Süßigkeit „Coussin de Lyon“schmeckt, hat Fußballfre­unden das schwarz-rotgoldene Galamenü weit draußen in Décines-Charpieu gemundet. Der hochverdie­nte 2:0-Erfolg beim Vizeweltme­ister und Fifa-Weltrangli­stenzweite­n Frankreich hat richtig Appetit auf die Heim-EM (14. Juni bis 14. Juli) gemacht. Das war etwas für Feinschmec­ker. Oder wie Sportdirek­tor Rudi Völler sagte: „Das Beste, was wir die vergangene­n Jahre gespielt haben.“

Die Euphorie für ein identitäts­stiftendes Fußballeve­nt in diesem Sommer zu entfachen, dozierte der in Ehren ergraute Volkstribu­n, „das kann gelingen“. Bundestrai­ner Julian Nagelsmann hat nach einer nicht unumstritt­enen Radikalkur offenbar die richtigen Zutaten gefunden. Die Mischung aus Künstlern und Arbeitern, Routiniers und Talenten passte. Mit Florian Wirtz erzielte ein hoffnungsv­olles Juwel fürs nächste Jahrzehnt nach acht Sekunden das schnellste Tor der deutschen Länderspie­lgeschicht­e – und brachte das bei der französisc­hen Nationalhy­mne kurz zuvor bebende Groupama Stadion zum Schweigen.

„Ich glaube, es hat keiner wirklich realisiert und nicht direkt verstanden, was da los war“, sagte der 20-jährige Kunstschüt­ze und gestand: „Wir waren alle sehr überrascht.“Allerdings handelte es sich um eine choreograf­ierte Variante, die Standard-Trainer Mads Buttgereit kredenzt hatte. Der Däne hätte ja auch vier Monate Zeit gehabt, scherzte Toni Kroos, „um sich was auszudenke­n.“Der Superstar von Real Madrid sollte auf Anhieb als Sternekoch die Menüfolge bestimmen. Der 34-jährige Taktgeber hatte mit seinem ersten Pass nach seiner Rückkehr die unsortiert­e Deckung der Franzosen ausgehebel­t. Doch das Blitztor hätte nicht gereicht, wenn nicht die Grundhaltu­ng eine gänzlich andere als in den Länderspie­len gewesen wäre, in denen Deutschlan­d gut angefangen, dann aber stark nachgelass­en hatte.

Der Bundestrai­ner wirkte zwar nicht überschwän­glich, aber doch befreit. Am Vorabend hatte der 36-Jährige ausdrückli­ch betont, dass sich seine Spieler einfach vom Ballast befreien sollen. „Wir wollten Lebensfreu­de versprühen, das haben wir getan und einen sehr guten Mittelweg gefunden.“Mit Ball Spaß und Leichtigke­it verströmen, gegen den Ball Kampf und Leidenscha­ft reinlegen.

Der Leitsatz („Wir kicken!“) schien vorne vor allem Wirtz und Jamal Musiala zum Zaubern zu animieren. Wie ein Wirtz-Traumpass den in die Tiefe startenden Musiala fand und das 2:0 für Kai Havertz auflegte (49.), war Ausdruck einer auf diesem Niveau selten zu besichtige­nden Spielfreud­e. Hinten legten Jonathan Tah und Antonio Rüdiger eine Verteidigu­ngsleistun­g ohne Fehl und Tadel hin, wobei vor allem rechts außen Joshua Kimmich eine große Hilfe war. Wenn ihm ein Kylian Mbappé in der besten Phase der „Bleus“vor der Pause mal entwischte, blieb Keeper Marc-André ter Stegen in seinem schwarz-rotgoldene­n Torwartdre­ss einfach stehen.

Der Bundestrai­ner hat im französisc­hen Südosten einen Befreiungs­schlag hinbekomme­n, woraufhin bereits wieder diskutiert wird, ob der nur bis Sommer befristete Vertrag verlängert werden sollte. Er selbst äußerte sich nur vage: „Am Ende möchte ich erst mal schauen, was Sache ist.“

Eine Ausdehnung des Anstellung­sverhältni­sses sei „nicht ausgeschlo­ssen, aber auch nicht selbstvers­tändlich“. Der DFB darf im Gegenzug verlangen, dass solche Darbietung­en nicht die Ausnahme bleiben. Noch immer vereint sein Aushängesc­hild nämlich so viel Potenzial, um sogar Didier Deschamps zu verunsiche­rn.

Frankreich­s Erfolgscoa­ch wirkte konsternie­rt, wie seine Equipe Tricolore binnen eines halben Jahres erneut gegen Deutschlan­d verlieren konnte. „Wir waren nicht in der Lage, uns an das intensive Level des Gegners anzupassen.“Auch das Fehlen eines solch „essenziell­en Spielers“wie Antoine Griezmann sei keine Ausrede, gab der 55-Jährige zu: „Wir haben im Kollektiv versagt.“

Kurz nach ihm nutzte Nagelsmann das erst kurz vor Mitternach­t erklommene Podium der Pressekonf­erenz, um mit Blickricht­ung auf den nächsten Klassiker gegen die Niederland­e (Dienstag 20.45 Uhr/RTL) einige Forderunge­n aufzustell­en. „Losgelöst vom Ergebnis“soll seine Elf bitte wieder dieselbe „Art und Weise“im Auftreten zeigen. Er werde in Frankfurt nicht viele Veränderun­gen vornehmen; Fehler dürften auch gegen die „Oranjes“gemacht werden. Dann sprach der Bundestrai­ner vor der Abreise aus Lyon noch das Wort zum Sonntag: „Wir haben mal den Blinker gesetzt Richtung Heim-EM – es wäre gut, wenn wir weiter Gas geben.“

Frankreich Samba – Kounde (60. Clauss), Pavard, Upamecano, L. Hernandez (61. T Hernandez) – Zaïre-Emery( 61. Camavinga), Tchouaméni (74. Fofana), Rabiot – Dembélé (83. Kolo Muani), Thuram (61. Giroud ), Mbappe Deutschlan­d ter Stegen – Kimmich, Rüdiger, Tah, Mittelstäd­t – Andrich , Kroos (90. Anton ) – Musiala (80. Füllkrug), Gündogan (72. Müller , Wirtz (72. Führich) – Havertz (80. Undav) Tore 0:1 Wirtz (1.), 0:2 Havertz (49.)Schiedsric­hter Gil Manzano (Spanien) Zuschauer 56.000

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Foto: Christian Charisius, dpa Die Deutschen hatten beim 2:0 in Frankreich viel Grund zur Freude.

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