Mittelschwaebische Nachrichten
Die zwei Gesichter des Sigmar Gabriel
Als Wirtschaftsminister sollte er für das umstrittene Handelsabkommen mit den USA sein, als SPD-Chef rückt er nun von ihm ab. Aus Parteiräson?
Die Wirtschaft hat ihr Urteil bereits gefällt. Überfordert, mutlos, enttäuschend: So hart wie Sigmar Gabriel haben die großen Verbände schon lange keinen Wirtschaftsminister mehr attackiert. Wem, wenn nicht ihm, sollte der freie Handel denn ein besonderes Anliegen sein? Wer, wenn nicht er, müsste im transatlantischen Abkommen die Chancen für die Exportnation Deutschland sehen und nicht nur die Risiken? Stattdessen hat sich Gabriel wie beiläufig dem Druck seiner Genossen gebeugt und TTIP faktisch für tot erklärt. Als Wirtschaftsminister!
Im Jahr vor der Wahl ist das ein politisch verführerischer, zugleich aber auch ein ökonomisch fragwürdiger Kurswechsel. Gabriel, lange Zeit einer der flammendsten Befürworter des Abkommens in der Sozialdemokratie, rückt ja nicht von TTIP ab, weil ihn plötzlich die Sorge beschleicht, die USA könnten Europa über den Tisch ziehen. Nein, er tut es aus Parteiräson: Der subtile Antiamerikanismus und die diffuse Angst vor Chlorhühnchen und Hormonfleisch, die die Debatte über das Abkommen prägen, sind auch in der SPD weitverbreitet. Gleichzeitig ist Gabriels Autorität in der Partei so angekratzt, dass er es nicht auf eine Machtprobe ankommen lassen kann. Schon gar nicht bei einem Thema wie TTIP, für das kein Genosse sich gern verkämpft.
Es ist eine paradoxe Situation. Als Wirtschaftsminister braucht Gabriel das Abkommen, weil es auch deutschen Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnet und damit Arbeitsplätze sichert, wenn nicht sogar neue schafft. Aber als SPDVorsitzender soll er schon kraft Amtes dagegen sein, nachdem weite Teile seiner Partei ins Lager der TTIP-Kritiker übergelaufen sind. Jetzt rächt es sich, dass die Koalition lange so getan hat, als sei das Abkommen eine Art Selbstläufer, für das man sich weder groß engagieren noch groß die Werbetrommel rühren muss. Tatsächlich jedoch ist das Gegenteil eingetreten: Bis weit ins bürgerliche Lager steht das Kürzel TTIP heute für gierige Konzerne, für geprellte Verbraucher und eine entmündigte Justiz, weil Konflikte künftig von privaten Schiedsgerichten entschieden werden sollen.
Dass die amerikanische Wirtschaft sich nach einem Scheitern der Gespräche noch viel stärker den Märkten in Asien zuwenden wird, dass Europa noch mehr um seinen Platz in der Welt kämpfen muss, dass das Abkommen auch handfeste Vorteile wie niedrigere Abgaswerte in der EU oder niedrigere Roaming-Gebühren in den USA hätte: geschenkt. Aus TTIP macht auch die pfiffigste PR-Kampagne kein Gewinnerthema mehr.
Als Wirtschaftsminister kann Gabriel das nicht kalt lassen, zumal sein Ruf auch schon durch die anhaltend hohen Rüstungsexporte und sein ungeschicktes Agieren bei der geplanten Fusion von Edeka und Tengelmann gelitten hat. Es ist, ein wenig, wie bei Don Quichotte und den Windmühlen: In einer Partei wie der SPD, in der die antikapitalistischen Reflexe noch immer gut funktionieren, kämpfen die ökonomischen Pragmatiker häufig auf verlorenem Posten. Für TTIP zu sein: Das ist für viele Genossen so unvorstellbar wie ein Übertritt zur FDP. Irgendwie unappetitlich.
Die Briten werden nicht zögern, nach ihrem Ausscheiden aus der Europäischen Union ein Freihandelsabkommen mit den USA abzuschließen – sie wissen, dass sie davon nur profitieren können. In Deutschland dagegen haben die Bedenkenträger die Deutungshoheit erobert. Für oder gegen das Abkommen zu sein, ist zu einer Glaubensfrage geworden, wie es einst eine Glaubensfrage war, für oder gegen die Kernkraft zu sein. Umso wichtiger wäre es, dass die Politik mit guten Argumenten und einer klugen Verhandlungsstrategie überzeugt. Noch ist TTIP nicht verloren.
Eine Glaubensfrage wie einst bei der Atomkraft