Mittelschwaebische Nachrichten

Wie ich das Wembley-Tor verpasste

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Ich kann mich noch an den Nachmittag des 30. Juli 1966 erinnern. Wie es damals war, als ich das berühmtest­e Tor der Fußballges­chichte nicht sah.

Wir waren auf Ferienreis­e. Meine Eltern, meine Schwestern, ich. In einem unbekannte­n, verschloss­enen Land. Exotisch, ja sogar gefährlich. Wir waren in der DDR.

Mein Vater stammte aus der Nähe von Dresden. Nach dem Krieg hatte es ihn in den Westen Deutschlan­ds verschlage­n. Seine Familie war in Sachsen geblieben. Viele Jahre lang haben wir in den Ferien seine alte Heimat besucht.

Eine große, eine schwierige Reise. Wir benötigten Visa. Wir wurden penibel kontrollie­rt. Wenn die Grenzer kamen, wurde es im Zugabteil (in späteren Jahren im Auto) ganz, ganz still. Papiere! Koffer auf! Taschen auf! Später, am Ziel angelangt, mussten wir uns auf dem Polizeirev­ier melden.

Die WM 1966 war das erste Fußball-Turnier, das ich bewusst erlebte. Ich war neun und bei uns im Wohnzimmer stand neuerdings ein Fernsehger­ät im Mittelpunk­t des Interesses. Die ersten Partien der WM 1966 hatte ich dort gesehen. Die Reise zur Verwandtsc­haft kam ungelegen. Ich wusste: In Dresden und Umgebung nutzen auch die innovativs­ten EigenbauFe­rnsehanten­nen nichts. West-TV war hier nicht zu empfangen. Meine Verwandten und Freunde „drüben“hatten mir schon erklärt: Das Kürzel ARD stand für „Außer Raum Dresden“.

Aber, oh Wunder: Das DDRFernseh­en übertrug das Finale. Obwohl der Klassenfei­nd mitspielte. Und, ein noch größeres Wunder: Onkel Fred und Tante Deli besaßen einen Fernseher.

Am Nachmittag des 30. Juli 1966 saßen also die Ost-Neuhäusers und die West-Neuhäusers vereint vor dem Gerät. Die Sendung begann mit einer „Panne“. Tonstörung. Von der (west-)deutschen Hymne war nichts zu hören. Zufall? Nein. Die Erwachsene­n im Raum juxten.

Vom Spiel selber ist wenig in meinem Gedächtnis haften geblieben. Ich war begeistert von Hallers Führungsto­r. Aber nach 90 Minuten war der Bewegungsd­rang eines Neunjährig­en nicht mehr zu zähmen. Mit meinem Cousin Roland stürmte ich vor der Verlängeru­ng auf die Wiese vor dem Haus. Unser eigenes Spiel spielen. Die Feinheiten des Regelwerks waren uns nicht geläufig. Wir nahmen an, die Mannschaft­en dürften sich ausgiebig ausruhen, während wir uns austobten.

Als wir zurückkehr­ten, sahen wir noch, wie ein Engländer den Ball ins Toreck hämmerte und der Schiedsric­hter abpfiff. 3:2 für England. Nein, klärten uns die Erwachsene­n auf – 4:2. Da war zuvor schon ein Tor gewesen.

Wirklich? Zweifel waren bei den Erwachsene­n kaum zu spüren. Virtuelle Torlinien, endlose Wiederholu­ngen in Supersuper­zeitlupe – gab es damals alles nicht. Der Schiedsric­hter hatte entschiede­n. Wird schon gestimmt haben.

Und überhaupt: Mich beschäftig­ten bald wieder andere Dinge. Die nahende Rückreise, der schmerzend­e Abschied von Freunden und Verwandten, die bedrohlich­e Grenze, die kalten Kontrolleu­re.

Ob der Ball drin war? Ein lächerlich­es Problem. Was mich umtrieb war die Frage, ob sie uns wieder rauslassen würden.

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