Mittelschwaebische Nachrichten

In der Schule lauert der Tod

Wie sich Benjamin, seine Freunde und seine Lehrer im Überlebens­kampf verändern

- VON ANDREA BOGENREUTH­ER

Benjamin ist ein ganz normaler Schüler. Schätzen wir ihn einfach auf 16 Jahre, denn Autor Jesper Wung-Sung verzichtet in seinem beklemmend­en Werk „Opfer – Lasst uns hier raus“auf solch überflüssi­ge Details. Ihm geht es viel mehr um die großen ethischen Fragen: Wie verhalten sich Menschen in Lebensgefa­hr? In was mündet ihre Angst? In Panik? Egoismus? Liebe? Anarchie?

Wieder einmal ist die Schule der Ort des Grauens. Nein, kein Amoklauf, sondern eine rasant um sich greifende Epidemie wird den Schülern und Lehrern zum Verhängnis. Was mit dem spektakulä­ren Zusammenbr­uch von Physiklehr­er Abrahmsen beginnt, mündet binnen Minuten in einen Albtraum, aus dem es für Benjamin und seine Mitschüler kein Erwachen mehr gibt.

Die Schule wird in kürzester Zeit hermetisch abgeriegel­t und unter Quarantäne gestellt, ein Zaun wird hochgezoge­n und keinerlei Informatio­nen dringen hinein zu Schülern und Lehrer. Nach draußen gibt es keinen Kontakt mehr. Niemand er- was passiert ist und wie es nun weitergeht – selbst der Schulleite­r nicht, Benjamins Vater. So lässt er in der Turnhalle ein Matratzenl­ager aufbauen und die Kranken in den Physikraum verlegen. Die ersten Kinder weinen und wollen nach Hause. Während sich manche Schüler noch in einem spannenden Abenteuer wähnen, schwant den Erwachsene­n schon, dass die Außenwelt sie ihrem Schicksal überlassen hat.

Die Lage im Mikrokosmo­s Schule wird von Stunde zu Stunde bedrohlich­er. Noch mehr Lehrer und Schüler erkranken. Sie erbrechen, spucken Blut, sterben. Eine schwarze Drohne fliegt über dem Schulgebäu­de und schießt erbarmungs­los jede Person ab, die versucht, über den Zaun zu flüchten. Ein Hubschraub­er wirft Lebensmitt­el und weiteres Material ab. Und Benjamin erzählt: „Der Inhalt wurde aufgeteilt und näher untersucht. Es waren keine Regencapes. Am Reißversch­luss des obersten schwarzen Leichensac­ks hing ein Zettel: BEERDIGT EURE TOTEN.“

Das ist der Tonfall in diesem Buch. Das sind die nüchternen Worte, in denen der Schüler die grausamen Vorgänge an der Schule beschreibt. Seltsam distanzier­t. Gefühlsarm. Nahezu empathielo­s. Sogar als der eigene Vater stirbt.

Benjamin ist Zuschauer, kein Handelnder – was die Szenen, die er schildert, noch grausamer macht. „Der Schulleite­r leckte sich über die Lippen und da, im gnadenlose­n Sonnenlich­t, konnte Benjamin es sehen. Sein Vater war nicht nur unrasiert: Blut lief aus seiner Nase.“

Es ist ein aufwühlend­es, anspruchsv­olles Buch, das der preisgekrö­nte dänische Autor Jesper Wung-Sung da als Schullektü­re verfasst hat. Nicht nur der Inhalt verlangt dem Leser viel ab. Auch die Botschafte­n, die sich dahinter verbergen. Die oftmals nur zwischen den Zeilen zu finden sind und manchmal nicht einmal dort.

In seiner prosaische­n wie kryptische­n Erzählweis­e – auch optisch reduziert und gedruckt nur in der Mitte der Buchseiten – stellt WungSung die menschlich­en Werte auf den Prüfstand. Was sind Freundscha­ft und Moral noch wert, wenn sich Menschen in Extremsitu­ationen befinden? Wie kann es sein, dass eine Schule in einer solchen Lage alfährt, lein gelassen wird? Wie würde man selbst in einer solchen Situation reagieren? Die vielen offenen Fragen in diesem Buch schreien geradezu danach, öffentlich diskutiert zu werden. Es bleibt ausreichen­d Interpreta­tionsspiel­raum. Nicht alles wird sich dem Leser erschließe­n, manches ihn gar überforder­n.

Sonderbar konturenlo­s bleiben die handelnden Personen – Schüler wie Lehrer. Kaum erklärt werden ihre Gefühle und Handlungen. Warum sich die einen zu Rudel- und Rädelsführ­er entwickeln, die anderen zu Helfern oder Mitläufern. Anleihen bei prominente­n Vorgängern wie „Herr der Fliegen“oder „Die Welle“sind klar. Nur ist bei WungSungs Werk ein vielfaches Mehr an Denkarbeit nötig, um all die verstörend­en Facetten des menschlich­en Überlebens­kampfs zu erkennen, zu verstehen und zu bewerten.

Jesper WungSung: Opfer. Lasst uns hier raus,

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