Mittelschwaebische Nachrichten
In der Schule lauert der Tod
Wie sich Benjamin, seine Freunde und seine Lehrer im Überlebenskampf verändern
Benjamin ist ein ganz normaler Schüler. Schätzen wir ihn einfach auf 16 Jahre, denn Autor Jesper Wung-Sung verzichtet in seinem beklemmenden Werk „Opfer – Lasst uns hier raus“auf solch überflüssige Details. Ihm geht es viel mehr um die großen ethischen Fragen: Wie verhalten sich Menschen in Lebensgefahr? In was mündet ihre Angst? In Panik? Egoismus? Liebe? Anarchie?
Wieder einmal ist die Schule der Ort des Grauens. Nein, kein Amoklauf, sondern eine rasant um sich greifende Epidemie wird den Schülern und Lehrern zum Verhängnis. Was mit dem spektakulären Zusammenbruch von Physiklehrer Abrahmsen beginnt, mündet binnen Minuten in einen Albtraum, aus dem es für Benjamin und seine Mitschüler kein Erwachen mehr gibt.
Die Schule wird in kürzester Zeit hermetisch abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt, ein Zaun wird hochgezogen und keinerlei Informationen dringen hinein zu Schülern und Lehrer. Nach draußen gibt es keinen Kontakt mehr. Niemand er- was passiert ist und wie es nun weitergeht – selbst der Schulleiter nicht, Benjamins Vater. So lässt er in der Turnhalle ein Matratzenlager aufbauen und die Kranken in den Physikraum verlegen. Die ersten Kinder weinen und wollen nach Hause. Während sich manche Schüler noch in einem spannenden Abenteuer wähnen, schwant den Erwachsenen schon, dass die Außenwelt sie ihrem Schicksal überlassen hat.
Die Lage im Mikrokosmos Schule wird von Stunde zu Stunde bedrohlicher. Noch mehr Lehrer und Schüler erkranken. Sie erbrechen, spucken Blut, sterben. Eine schwarze Drohne fliegt über dem Schulgebäude und schießt erbarmungslos jede Person ab, die versucht, über den Zaun zu flüchten. Ein Hubschrauber wirft Lebensmittel und weiteres Material ab. Und Benjamin erzählt: „Der Inhalt wurde aufgeteilt und näher untersucht. Es waren keine Regencapes. Am Reißverschluss des obersten schwarzen Leichensacks hing ein Zettel: BEERDIGT EURE TOTEN.“
Das ist der Tonfall in diesem Buch. Das sind die nüchternen Worte, in denen der Schüler die grausamen Vorgänge an der Schule beschreibt. Seltsam distanziert. Gefühlsarm. Nahezu empathielos. Sogar als der eigene Vater stirbt.
Benjamin ist Zuschauer, kein Handelnder – was die Szenen, die er schildert, noch grausamer macht. „Der Schulleiter leckte sich über die Lippen und da, im gnadenlosen Sonnenlicht, konnte Benjamin es sehen. Sein Vater war nicht nur unrasiert: Blut lief aus seiner Nase.“
Es ist ein aufwühlendes, anspruchsvolles Buch, das der preisgekrönte dänische Autor Jesper Wung-Sung da als Schullektüre verfasst hat. Nicht nur der Inhalt verlangt dem Leser viel ab. Auch die Botschaften, die sich dahinter verbergen. Die oftmals nur zwischen den Zeilen zu finden sind und manchmal nicht einmal dort.
In seiner prosaischen wie kryptischen Erzählweise – auch optisch reduziert und gedruckt nur in der Mitte der Buchseiten – stellt WungSung die menschlichen Werte auf den Prüfstand. Was sind Freundschaft und Moral noch wert, wenn sich Menschen in Extremsituationen befinden? Wie kann es sein, dass eine Schule in einer solchen Lage alfährt, lein gelassen wird? Wie würde man selbst in einer solchen Situation reagieren? Die vielen offenen Fragen in diesem Buch schreien geradezu danach, öffentlich diskutiert zu werden. Es bleibt ausreichend Interpretationsspielraum. Nicht alles wird sich dem Leser erschließen, manches ihn gar überfordern.
Sonderbar konturenlos bleiben die handelnden Personen – Schüler wie Lehrer. Kaum erklärt werden ihre Gefühle und Handlungen. Warum sich die einen zu Rudel- und Rädelsführer entwickeln, die anderen zu Helfern oder Mitläufern. Anleihen bei prominenten Vorgängern wie „Herr der Fliegen“oder „Die Welle“sind klar. Nur ist bei WungSungs Werk ein vielfaches Mehr an Denkarbeit nötig, um all die verstörenden Facetten des menschlichen Überlebenskampfs zu erkennen, zu verstehen und zu bewerten.
Jesper WungSung: Opfer. Lasst uns hier raus,