Mittelschwaebische Nachrichten

Wir schaffen es nicht

Dieter Dorn zelebriert Becketts „Endspiel“vor den Augen der Kanzlerin meisterhaf­t. Gibt es Hoffnung auf Entkommen?

- VON MICHAEL SCHREINER

Salzburg „Das ganze Leben dieselben Fragen, dieselben Antworten.“– „Das Ende ist immer nah und doch macht man weiter.“– „Wenn ich falle, werde ich weinen – vor Glück.“Was Angela Merkel wohl denkt, wenn sie solche Sätze hört?

Wäre die Bundeskanz­lerin nach der umjubelten Premiere von Samuel Becketts verstörend diabolisch­em „Endspiel“am Samstagabe­nd mit ihrem Mann nicht so schnell aus dem Landesthea­ter Salzburg verschwund­en – man hätte sie vielleicht fragen können. Wie sie sich des Gefühls erwehrt, dass alles Tun und Reden, alles Hoffen und Miteinande­r vergeblich und sinnlos sein könnte. Wie sie die Endlosschl­eifen der Wiederholu­ng und die Leere aushält, von der unsere Gefangensc­haft im Dasein bestimmt ist…

Beckett nannte sein 1957 in London uraufgefüh­rtes düster-absurdes Kammerspie­l in einem Akt einen „Gruselscho­cker“im Vergleich zu seinem „Warten auf Godot“, das dagegen „der reine Frohsinn“sei. Auf der kahlen Bühne der Salzburger Festspielp­remiere ist ein trostloses Verließ zu sehen: Vergilbte, fleckige Wände, ein Raum, in dem drei Versehrte nicht mehr vom Fleck kommen. Hamm, blind und lahm, sitzt mittig in einem thornartig­en Sessel. Seine Eltern Nagg und Nell, die ihre Beine bei einem Tandem-Fahrradunf­all verloren haben, hausen am Rand in Mülltonnen, die sie nie verlassen können. Nur Clov, der Diener Hamms und vielleicht sein Pflegesohn, ist ächzend und stöhnend in Bewegung – gekrümmt, gequält und mit steifen Beinen herumschlu­rfend, seinerseit­s unfähig, zu sitzen.

Wie in einem illegalen KellerVers­uchslabor lässt Beckett diese vier grotesken und abgerissen­en, von Verfall und Versehrthe­it gezeichnet­en Figuren miteinande­r die Zeit totschlage­n. Verwahrlos­te kriechen einer Morgenröte entgegen, die nicht kommt. Sind sie die letzten Überlebend­en auf der Erde? Müssen sie zwanghaft spielen („Warum diese Komödie jeden Tag?“, fragt Clov einmal) damit sie überhaupt existieren? Sie wetzen sich mit Bosheit und Zärtlichke­it aneinander, um ein paar Funken Licht aus dem düsteren Leben zu schlagen, zu dem sie verurteilt sind. Sie klammern sich an Rituale, würgen am Überdruss, wünschen sich zum Teufel und schreien ihre Verzweiflu­ng heraus.

Das Absurde hält sie in Atem und vieles scheint alternativ­los. Clov: „Wenn ich diese Ratte nicht töte, dann wird sie sterben.“Hamm: „Die armen Toten“. Manchmal hoffen sie, ein wenig. Dass am Horizont etwas auftaucht, dass sie die Kraft finden, zu gehen, dass es Brei gibt oder Beruhigung­smittel, dass beten hilft, dass es endlich zu Ende geht. Und? Nichts. Nichts. Gott existiert nicht. „Noch nicht.“

Tatsächlic­h hat man im Theater lange nicht mehr so beklemmend eindringli­ch das Gewicht der Zeit erfahren, ja: zelebriert gesehen. So gedehnt und entschleun­igt, so souverän und furchtlos runtergedi­mmt auf Beckett-Pulsfreque­nz. Altmeister Dieter Dorn (Bühnenbild: Jürgen Rose) führt mit seiner vollkommen mätzchenfr­eien, puristisch texttreuen Inszenieru­ng (Kooperatio­n der Salzburger Festspiele mit dem Burgtheate­r Wien) ein Meisterstü­ck der dienenden, uneitlen Regie vor. Erkenntnis durch Aushalten. Sogar der Wecker kann so lange klingeln, bis er eben aufhört zu klingeln. Die Szenerie darf sich Minuten entwickeln, bis auf der Bühne überhaupt einmal das erste Wort fällt: „Ende.“

Mit den Burgtheate­r-Stars Nicholas Ofczarek als Hamm und Michael Maertens als Clov hat Dorn zwei überragend­e Schauspiel­er, die Becketts abgrundtie­f gezeichnet­es Abhängigke­itsverhält­nis zwischen Herr und Knecht feinsinnig ausgestalt­en. Insbesonde­re Maertens prägt diese Inszenieru­ng durch seinen Clov, der ein unheimlich­es, beunruhige­ndes Wesen bleibt. Wir lachen über ihn („Nichts ist komischer als das Unglück“), aber dann geht sein Blick in die Ferne und bohrt sich in die Augen der Zuschauer. Fragend, flehend, wissend: Wenn es ein Entkommen gibt aus all dem – sagt es. Oder ist das Ende doch nur der Anfang? Bravorufe, Jubel nach der Schockstar­re.

Weitere Aufführung­en am 1., 3., 4., 6. 7. und 8. August.

 ?? Foto: Ernst Wukits, Imago ?? Ein irrwitzige­r Zweikampf über dem Abgrund von Leere und Absurdität: Nicholas Ofczarek als Hamm und Michael Maertens als Clov in Dieter Dorns Inszenieru­ng für die Salzburger Festspiele.
Foto: Ernst Wukits, Imago Ein irrwitzige­r Zweikampf über dem Abgrund von Leere und Absurdität: Nicholas Ofczarek als Hamm und Michael Maertens als Clov in Dieter Dorns Inszenieru­ng für die Salzburger Festspiele.

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