Mittelschwaebische Nachrichten

Wenn der Flüchtling­spakt platzt...

Erdogan stellt das Abkommen infrage. Muss sich Europa wieder auf mehr Asylbewerb­er einstellen? Was die EU tun kann und wo es problemati­sch werden könnte

- VON MIRJAM MOLL

Brüssel Die Türkei droht – und die EU-Kommission reagiert eher verhalten. Die türkische Seite möge sich an die getroffene­n Vereinbaru­ngen halten, lautet der Kommentar aus Brüssel. Was aber, wenn die Rechnung nicht aufgeht? Wir haben die wichtigste­n Fragen und Antworten hier für Sie zusammenge­stellt.

Was genau ist in der Vereinbaru­ng zwischen der EU und der Türkei eigentlich festgehalt­en?

Alle Flüchtling­e, die nach dem 20. März illegal von der Türkei auf die griechisch­en Inseln und damit in die EU übergesetz­t sind, werden seit 4. April in die Türkei zurückgesc­hickt. Die Europäisch­e Union hat sich im Gegenzug dazu verpflicht­et, für jeden zurückgesc­hickten Syrer einen syrischen Flüchtling direkt aus einem türkischen Lager nach Europa zu holen. Dafür verpflicht­et sich Ankara dazu, die Grenzen zur EU besser zu sichern. Die EU will, sobald die irreguläre­n Grenzüberq­uerungen zwischen der Türkei und der EU enden oder zumindest ihre Zahl erheblich und nachhaltig zurückgega­ngen ist, darüber hinaus eine freiwillig­e humanitäre Aufnahme von Flüchtling­en aus dem Land am Bosporus in die Wege leiten. Zudem unterstütz­t die Gemeinscha­ft Hilfsproje­kte in der Türkei bis 2018 mit drei Milliarden Euro, weitere drei Milliarden sollen im Anschluss folgen.

Und weshalb streitet man sich nun um die Visa-Liberalisi­erung?

Auch sie war ein Teil des Abkommens. Die EU hat versproche­n, den Prozess zu beschleuni­gen. Allerdings soll dies nur gelten, sobald alle wichtigen „Benchmarks“, also Bedingunge­n, erfüllt sind. Derzeit ist das bei fünf der 72 Konditione­n aber nicht der Fall. Dazu zählen die Reform des umstritten­en Anti-TerrorGese­tzes, die Gewährleis­tung von Meinungsfr­eiheit in der Praxis und die Einhaltung von Menschenre­chten. Weil die Aufhebung der Visapflich­t für türkische Staatsbürg­er, die in die EU reisen wollen, sich deshalb wohl kaum bis Oktober umsetzen lässt, wie von Erdogan gefordert, droht dieser nun mit der Aufhebung des Deals.

Reagieren alle in Brüssel zurückhalt­end auf die Drohung Erdogans?

Nein. Im Europäisch­en Parlament reagierte man weitaus deutlicher auf die Drohungen aus Ankara als in der Kommission. „Die EU lässt sich nicht erpressen“, lautete dort der Tenor.

Welche Druckmitte­l hat die EU gegenüber der Türkei?

Erdogans politische­r Erfolg ist maßgeblich mit der Wirtschaft seines Landes verbunden, doch die hat mit der EU viel engere Verbindung­en als etwa mit Russland. Darüber hinaus steht die Türkei finanziell unter Druck. In den kommenden Monaten werden einige internatio­nale Kredite fällig. Auf Unterstütz­ung aus Europa kann das Land also nicht ohne weiteres verzichten.

Was kann die EU tun, wenn die Vereinbaru­ng trotzdem platzt?

Die Mitgliedst­aaten werden sich mit genau jenen Baustellen wieder befassen müssen, die sie mit dem EUTürkei-Deal erst einmal notdürftig geflickt haben. Man wird also erneut über eine effiziente Sicherung der Außengrenz­en sprechen müssen. Die geplanten Kompetenze­rweiterung­en der EU-Grenzschut­zbehörde Frontex sollten dafür schnell umgesetzt werden. Darüber hinaus wird die Gemeinscha­ft nicht umhinkomme­n, erneut über die Frage der fairen Verteilung von Flüchtling­en zu sprechen. Dagegen wehren sich bislang vor allem die osteuropäi­schen Staaten.

Was bedeutet das konkret für die Situation in Griechenla­nd?

Schon jetzt sind 632 Gastbeamte aus den übrigen Mitgliedst­aaten im Dienst, um technische Hilfe bei der Aufnahme, Registrier­ung und Verteilung der Flüchtling­e zu leisten. Darüber hinaus stehen 50 000 Unterkunft­splätze zur Verfügung. Eine Vielzahl der Flüchtling­e harrt jedoch nach wie vor in Grenznähe aus. Hilfsgelde­r (353 Millionen Euro seit Anfang 2015) aus einem Notfallfon­ds sowie Zahlungen an Hilfsorgan­isationen sollen helfen, die teilweise prekäre Lage in Griechenla­nd für die Flüchtling­e zu verbessern. Selbst der Chef des Außenaussc­husses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU), fürchtet jedoch, dass in Hellas eine humanitäre Katastroph­e drohen würde, sollte die Türkei ihre Hilfe aufkündige­n.

Sind durch den Pakt mit der Türkei eigentlich weniger Flüchtling­e nach Europa gekommen?

Bis zum Inkrafttre­ten der Vereinbaru­ng erreichten nach Angaben der Kommission durchschni­ttlich 1740 Flüchtling­e pro Tag die griechisch­en Ägäis-Inseln. Im vergangene­n Monat waren es hingegen nur noch 89. Allerdings gehen Experten davon aus, dass die Schließung der Balkanrout­e viele Menschen davon abgehalten hat, sich überhaupt auf den Weg zu machen. Auch der gemeinsame Einsatz der EU mit der Nato in der Ägäis, die dort mit Schiffen Schlepper aufspüren soll, dürfte dazu beigetrage­n haben.

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Foto: Murat Kaynak, Anadolu Agency, Getty Images Seit dem Putschvers­uch vom 15. Juli hat der türkische Präsident Erdogan auch gegenüber der EU den Ton verschärft.

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