Mittelschwaebische Nachrichten
Der große Bericht
Tom McCarthys intellektuelles Spiel
Ein Anthropologe sitzt irgendwo im Keller des Unternehmens, für das er arbeitet und schreibt an einem Narrativ für einen Großkunden, einer Art Blaupause für ein profitables Geschäftsmodell, das er zwischendurch am liebsten sabotieren würde. „Nennt mich U. – Call me you“, sagt der Erzähler gleich zu Anfang, „nennt mich du“.
Damit beginnt der Autor ein intellektuelles Spiel, in dem er dem Leser immer wieder neue Narrative vorsetzt, ihn über neue Strukturen grübeln lässt. McCarthy, der nicht nur Schriftsteller ist, sondern auch Philosoph, verweigert in „Satin Island“die klassischen Zutaten eines Romans. Das Buch hat keine zentrale Erzählung, keinen Plot, auch keine Figuren im üblichen Sinn. U beschäftigt sich vor allem damit, Dossiers anzulegen über Abstürze von Fallschirmspringern und Haiattacken, über Spammails und über die Bügelfalten von Jeans. Endzeit-Vorstellungen prägen seinen Traum von der Müllverbrennungs-Insel Satin Island. Später wird er vor der Fähre nach Staten Island, der früheren Müllkippe New Yorks, zurückschrecken und die Buchstabenfolge von Staten Island Ferry zu Satin Island umgruppieren. Betreten wird er die Müllinsel nicht. „Es wäre zutiefst sinnlos gewesen.“Sinnlos wie der Große Bericht selbst, den U am Ende schuldig bleibt. Es sei denn „Satin Island“selbst ist dieser Bericht. Lilo Solcher