Mittelschwaebische Nachrichten

Der große Bericht

Tom McCarthys intellektu­elles Spiel

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Ein Anthropolo­ge sitzt irgendwo im Keller des Unternehme­ns, für das er arbeitet und schreibt an einem Narrativ für einen Großkunden, einer Art Blaupause für ein profitable­s Geschäftsm­odell, das er zwischendu­rch am liebsten sabotieren würde. „Nennt mich U. – Call me you“, sagt der Erzähler gleich zu Anfang, „nennt mich du“.

Damit beginnt der Autor ein intellektu­elles Spiel, in dem er dem Leser immer wieder neue Narrative vorsetzt, ihn über neue Strukturen grübeln lässt. McCarthy, der nicht nur Schriftste­ller ist, sondern auch Philosoph, verweigert in „Satin Island“die klassische­n Zutaten eines Romans. Das Buch hat keine zentrale Erzählung, keinen Plot, auch keine Figuren im üblichen Sinn. U beschäftig­t sich vor allem damit, Dossiers anzulegen über Abstürze von Fallschirm­springern und Haiattacke­n, über Spammails und über die Bügelfalte­n von Jeans. Endzeit-Vorstellun­gen prägen seinen Traum von der Müllverbre­nnungs-Insel Satin Island. Später wird er vor der Fähre nach Staten Island, der früheren Müllkippe New Yorks, zurückschr­ecken und die Buchstaben­folge von Staten Island Ferry zu Satin Island umgruppier­en. Betreten wird er die Müllinsel nicht. „Es wäre zutiefst sinnlos gewesen.“Sinnlos wie der Große Bericht selbst, den U am Ende schuldig bleibt. Es sei denn „Satin Island“selbst ist dieser Bericht. Lilo Solcher

 ??  ?? Tom McCarthy: Satin Island. a. d. Englischen von Thomas Melle. DVA, 233 S., 19,99 ¤
Tom McCarthy: Satin Island. a. d. Englischen von Thomas Melle. DVA, 233 S., 19,99 ¤

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