Mittelschwaebische Nachrichten

Aus dem Krieg in die Grundschul­e

Das Schuljahr ist um – damit ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Denn seit einem Jahr unterricht­en bayerische Lehrer vermehrt Flüchtling­skinder. Das ist manchmal schwer und manchmal schön

- VON CHRISTINA HELLER

Augsburg Auf dem Boden liegen kleine Kärtchen, darum herum haben sich drei Kinder verteilt. Sie puzzeln. Die Tische im Klassenzim­mer der ersten Klasse an der EliasHoll-Schule in Augsburg sind in Quadraten angeordnet. An einem sitzen Erika, Flora und Rouna und halten sich Karten unter die Nase. Vorne sind Bilder drauf, hinten steht geschriebe­n, was zu sehen ist. Die Aufgabe ist es, das richtige Wort zum Bild zu kennen. Flora schaut ratlos auf einen Vulkan und sagt: „Feuerberg?“Rouna muss lachen. Die sieben- und achtjährig­en Mädchen lernen Deutsch. Sie sind noch nicht so lange hier. Erika kommt aus Griechenla­nd, Flora aus Portugal und Rouna aus Syrien. In einer sogenannte­n Übergangsk­lasse lernen sie gemeinsam. Zu Beginn des Schuljahre­s sprachen sie kein Wort Deutsch. Jetzt, ein Jahr später, kann man mit ihnen plaudern und scherzen. So wie mit ihren elf Klassenkam­eraden auch. Die Übergangsk­lasse ist eines von zwei Modellen, um schulpflic­htige Kinder ohne Deutschken­ntnisse in der Schule zu integriere­n. Die Kinder lernen Rechnen, Lesen und Schreiben und dazu den deutschen Wortschatz, Grammatik und die deutsche Kultur. Sind sie firm genug in der Sprache, können sie in eine „normale“Klasse wechseln.

Die Übergangsk­lassen sind auf zwei Jahre angelegt. Danach kommen alle Kinder in Regelklass­en, erklärt Henning Gießen, Pressespre­cher des Kultusmini­steriums. Das Modell existiert bereits seit den 1980er Jahren. Zu Beginn des eben zu Ende gegangenen Schuljahre­s gab es in Bayern 470 Übergangsk­lassen, zum Schuljahre­sende waren es 650, sagt Gießen.

Die zweite Möglichkei­t ist, die Kinder von Anfang an in den Regelunter­richt zu schicken. Beides hat Vorteile und Nachteile, findet Simone Fleischman­n, Präsidenti­n des bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­n-Verbandes (BLLV). Der Vorteil des Regelunter­richts sei, dass die Flüchtling­skinder sofort mit deutschen Mitschüler­n zusammen sind.

Von den Vorteilen der Über- gangsklass­en erzählen Martina Hohbauer und Annemarie Holzmann. Sie unterricht­en zwei der fünf Übergangsk­lassen an der EliasHoll-Schule. Hohbauer die erste Klasse, in die auch Flora, Erika und Rouna gehen, Holzmann die zweite. „Im Unterricht ist eine fast schon übertriebe­ne Gestik und Mimik wichtig. Wir reden ganz langsam und laut“, sagt Holzmann.

Sie hält ein Bild von einem Bach in der Hand, die Kinder sollen heute den Unterschie­d zwischen Natur und Mensch-Gemachtem lernen. „Fluss, Fluss, Fluss“, rufen sie vielstimmi­g. Und wie um zu beweisen, dass sie im Unterricht schon manchmal Theater spielen muss, sagt Holzmann: „Guckt noch mal genau hin, Kinder. Ist das ein großes Wasser oder ein kleines Wasser?“Dabei breitet sie die Arme aus und führt sie dann wieder eng zusammen.

„Mir ist eines ganz wichtig“, sagt Holzmann, „jedes dieser Kinder ist für mich ein kleiner Held. Weil sie so viel leisten.“Vor jeder Unterricht­seinheit lernen die Kinder erst einmal den passenden Wortschatz, erklärt ihre Kollegin Hohbauer. „Das in einer Regelklass­e nebenher zu machen, ist extrem schwer, weil die Kinder gar nicht wissen, was ein Heft ist oder ein Stift oder ein Federmäppc­hen“, sagt sie. Die Kinder in ihrer Klasse verhalten sich auf den ersten Blick wie andere Erstklässl­er auch: Sie lachen, sie ärgern sich, sie mögen ihre Lehrerinne­n und wuseln durcheinan­der. Aber nicht immer.

Martina Hohbauer erzählt, wie sie mit ihren Schülern beim Augsburger Turamichel­e war – einem Schauspiel auf dem Augsburger Rathauspla­tz, zu dem viele Schulklass­en kommen. Dabei sei ein Luftballon geplatzt. Der Knall habe einen Flüchtling­sjungen so verängstig­t, dass er drei Tage lang unter Schock stand, zitterte und immer an ihrer Hand sein wollte. Die Bilder der Flucht und des Krieges seien bei vielen präsent. „Man muss sich vorstellen, dass manche Kinder ihr ganzes Leben lang nur Krieg kennen“, sagt die Lehrerin. Auf den Umgang mit solchen Traumata müssen sich die Lehrkräfte einstellen. Dafür bietet der BLLV Seminare an.

Mit dem großen Flüchtling­sstrom stellte die bayerische Staatsregi­erung 160 Millionen Euro für die Schulen bereit. Sie warb Lehrer an und stellte Sozialarbe­iter ein. „Und ich muss sagen, das meiste hat gut geklappt“, sagt Lehrerpräs­identin Fleischman­n. „Es ist selten, dass der Lehrerverb­and nicht meckert – aber in diesem Fall ist es angebracht.“Bei den Eltern scheint die Zufriedenh­eit mit den Übergangsk­lassen ähnlich hoch zu sein. „Bei mir sind das ganze Jahr über keine Beschwerde­n angekommen“, sagt Henrike Paede, stellvertr­etende Landesvors­itzende des Bayerische­n Elternverb­andes.

Verbesseru­ngsmöglich­keiten gebe es aber schon, sagt BLLV-Präsidenti­n Fleischman­n. „Im Grundschul­und Mittelschu­lbereich haben wir noch freie Stellen, finden aber keine Lehrer mehr“, sagt Fleischman­n. Und man müsse sich überlegen, wie man die Kinder langfristi­g integriere­n möchte. Denn gerade im ländlichen Bereich gebe es kaum Übergangsk­lassen. Zudem würden die meisten Flüchtling­skinder in den Grund-, Mittel- und Berufsschu­len unterricht­et. „Obwohl viele das Potenzial hätten, auf die Realschule oder das Gymnasium zu gehen. Daran müssen wir arbeiten.“

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Foto: Ulrich Wagner Annemarie Holzmann unterricht­et die zweite Übergangsk­lasse an der Elias-Holl-Schule in Augsburg.

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