Mittelschwaebische Nachrichten
Aus dem Krieg in die Grundschule
Das Schuljahr ist um – damit ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Denn seit einem Jahr unterrichten bayerische Lehrer vermehrt Flüchtlingskinder. Das ist manchmal schwer und manchmal schön
Augsburg Auf dem Boden liegen kleine Kärtchen, darum herum haben sich drei Kinder verteilt. Sie puzzeln. Die Tische im Klassenzimmer der ersten Klasse an der EliasHoll-Schule in Augsburg sind in Quadraten angeordnet. An einem sitzen Erika, Flora und Rouna und halten sich Karten unter die Nase. Vorne sind Bilder drauf, hinten steht geschrieben, was zu sehen ist. Die Aufgabe ist es, das richtige Wort zum Bild zu kennen. Flora schaut ratlos auf einen Vulkan und sagt: „Feuerberg?“Rouna muss lachen. Die sieben- und achtjährigen Mädchen lernen Deutsch. Sie sind noch nicht so lange hier. Erika kommt aus Griechenland, Flora aus Portugal und Rouna aus Syrien. In einer sogenannten Übergangsklasse lernen sie gemeinsam. Zu Beginn des Schuljahres sprachen sie kein Wort Deutsch. Jetzt, ein Jahr später, kann man mit ihnen plaudern und scherzen. So wie mit ihren elf Klassenkameraden auch. Die Übergangsklasse ist eines von zwei Modellen, um schulpflichtige Kinder ohne Deutschkenntnisse in der Schule zu integrieren. Die Kinder lernen Rechnen, Lesen und Schreiben und dazu den deutschen Wortschatz, Grammatik und die deutsche Kultur. Sind sie firm genug in der Sprache, können sie in eine „normale“Klasse wechseln.
Die Übergangsklassen sind auf zwei Jahre angelegt. Danach kommen alle Kinder in Regelklassen, erklärt Henning Gießen, Pressesprecher des Kultusministeriums. Das Modell existiert bereits seit den 1980er Jahren. Zu Beginn des eben zu Ende gegangenen Schuljahres gab es in Bayern 470 Übergangsklassen, zum Schuljahresende waren es 650, sagt Gießen.
Die zweite Möglichkeit ist, die Kinder von Anfang an in den Regelunterricht zu schicken. Beides hat Vorteile und Nachteile, findet Simone Fleischmann, Präsidentin des bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen-Verbandes (BLLV). Der Vorteil des Regelunterrichts sei, dass die Flüchtlingskinder sofort mit deutschen Mitschülern zusammen sind.
Von den Vorteilen der Über- gangsklassen erzählen Martina Hohbauer und Annemarie Holzmann. Sie unterrichten zwei der fünf Übergangsklassen an der EliasHoll-Schule. Hohbauer die erste Klasse, in die auch Flora, Erika und Rouna gehen, Holzmann die zweite. „Im Unterricht ist eine fast schon übertriebene Gestik und Mimik wichtig. Wir reden ganz langsam und laut“, sagt Holzmann.
Sie hält ein Bild von einem Bach in der Hand, die Kinder sollen heute den Unterschied zwischen Natur und Mensch-Gemachtem lernen. „Fluss, Fluss, Fluss“, rufen sie vielstimmig. Und wie um zu beweisen, dass sie im Unterricht schon manchmal Theater spielen muss, sagt Holzmann: „Guckt noch mal genau hin, Kinder. Ist das ein großes Wasser oder ein kleines Wasser?“Dabei breitet sie die Arme aus und führt sie dann wieder eng zusammen.
„Mir ist eines ganz wichtig“, sagt Holzmann, „jedes dieser Kinder ist für mich ein kleiner Held. Weil sie so viel leisten.“Vor jeder Unterrichtseinheit lernen die Kinder erst einmal den passenden Wortschatz, erklärt ihre Kollegin Hohbauer. „Das in einer Regelklasse nebenher zu machen, ist extrem schwer, weil die Kinder gar nicht wissen, was ein Heft ist oder ein Stift oder ein Federmäppchen“, sagt sie. Die Kinder in ihrer Klasse verhalten sich auf den ersten Blick wie andere Erstklässler auch: Sie lachen, sie ärgern sich, sie mögen ihre Lehrerinnen und wuseln durcheinander. Aber nicht immer.
Martina Hohbauer erzählt, wie sie mit ihren Schülern beim Augsburger Turamichele war – einem Schauspiel auf dem Augsburger Rathausplatz, zu dem viele Schulklassen kommen. Dabei sei ein Luftballon geplatzt. Der Knall habe einen Flüchtlingsjungen so verängstigt, dass er drei Tage lang unter Schock stand, zitterte und immer an ihrer Hand sein wollte. Die Bilder der Flucht und des Krieges seien bei vielen präsent. „Man muss sich vorstellen, dass manche Kinder ihr ganzes Leben lang nur Krieg kennen“, sagt die Lehrerin. Auf den Umgang mit solchen Traumata müssen sich die Lehrkräfte einstellen. Dafür bietet der BLLV Seminare an.
Mit dem großen Flüchtlingsstrom stellte die bayerische Staatsregierung 160 Millionen Euro für die Schulen bereit. Sie warb Lehrer an und stellte Sozialarbeiter ein. „Und ich muss sagen, das meiste hat gut geklappt“, sagt Lehrerpräsidentin Fleischmann. „Es ist selten, dass der Lehrerverband nicht meckert – aber in diesem Fall ist es angebracht.“Bei den Eltern scheint die Zufriedenheit mit den Übergangsklassen ähnlich hoch zu sein. „Bei mir sind das ganze Jahr über keine Beschwerden angekommen“, sagt Henrike Paede, stellvertretende Landesvorsitzende des Bayerischen Elternverbandes.
Verbesserungsmöglichkeiten gebe es aber schon, sagt BLLV-Präsidentin Fleischmann. „Im Grundschulund Mittelschulbereich haben wir noch freie Stellen, finden aber keine Lehrer mehr“, sagt Fleischmann. Und man müsse sich überlegen, wie man die Kinder langfristig integrieren möchte. Denn gerade im ländlichen Bereich gebe es kaum Übergangsklassen. Zudem würden die meisten Flüchtlingskinder in den Grund-, Mittel- und Berufsschulen unterrichtet. „Obwohl viele das Potenzial hätten, auf die Realschule oder das Gymnasium zu gehen. Daran müssen wir arbeiten.“