Mittelschwaebische Nachrichten

Bella Baviera

Zehntausen­de Bayern machen gerade Urlaub in Italien. Wie ist es eigentlich umgekehrt? Eine Geschichte über die „Touristen der Herzen“, Pflichtsta­tionen im Allgäu und die Frage, was Signor Ferrari an einer Augsburger Ausfallstr­aße zu suchen hat

- VON NIKLAS MOLTER UND ANDREAS FREI

Augsburg Claudio Ferrari hält das Buch mit dem blauen Cover in seinen Händen, als wäre es ein Schatz. Behutsam greift er nach seiner Brille, die an einem Band vor seiner Brust baumelt. Dann schlägt der 60-Jährige mit der sanften Stimme und den wachen Augen den 700-Seiten-Wälzer auf. Mit seinem Zeigefinge­r sucht Ferrari in der Liste der Städtename­n, die mit „A“beginnen, nach Augsburg. Sekunden später hat er die Stadt und damit auch die Seite, auf der mehr über sie steht, gefunden. „Dieses Buch ist meine Bibel“, sagt Ferrari, streicht über seinen weißen Bart und lächelt.

Tatsächlic­h ist das Buch der Grund, warum der Italiener an diesem stark bewölkten Nachmittag dort steht, wo er steht. Nämlich in Augsburg, auf einem Fleckchen Kies direkt an der Wertach. Im Hintergrun­d ist die Ackermann-Brücke zu sehen, die gerade erneuert wird. Auf der Straße, einer der meist befahrenen Ausfallstr­aßen der Stadt, schlängeln sich hinter Bauzäunen Autos vorbei. Dort, wo Ferrari steht, ist der Lärm glückliche­rweise nur gedämpft zu hören. Zu laut ist das Wasser, das direkt hinter ihm aus einem Arm des Wertachkan­als in die Wertach strömt.

Das Buch mit dem blauen Cover, in dem Ferrari diesen Ort gefunden hat, heißt „Guida Camper Europa 2013“. Es ist ein Reiseführe­r für Camper, der in ganz Europa Stellplätz­e empfiehlt. Ideal für Leute wie Claudio Ferrari und seine ein Jahr ältere Frau Antonella, die sich im Hintergrun­d die Haare macht. Mit dem Wohnmobil sind sie aus Pistoia hierher gereist.

Pistoia ist eine Stadt im Herzen der Toskana, 30 Kilometer von Florenz entfernt. Sie liegt in einer Gegend voller historisch­er Schätze und Schmuckstü­cke, in einer Region, in die jedes Jahr zehntausen­de Bayern strömen. Auf der Suche nach Sonne, nach Entspannun­g, nach la dolce vita. Was also sucht ein Mann wie Ferrari, der in einer solchen Gegend lebt, an einem wolkenverh­angenen Tag im 17 Grad kühlen Augsburg – an einer Ausfallstr­aße?

Ferrari lächelt bloß, als er die Frage hört. Ausfallstr­aße, weil der Führer den Stellplatz nun mal empfiehlt. Zentrumsna­h, Stromansch­luss, Frischwass­er, alles da. Der Rentner ist nicht der einzige Italiener, der an diesem Wochentag hier geparkt hat. Sieben von 19 Wagen haben ein italienisc­hes Kennzeiche­n. Und das ist nichts Besonderes.

Das weiß auch Astrid Kellner. Italiener fühlten sich von Augsburg, „ihrem Augusta“, nicht zuletzt wegen dessen römischen Ursprungs schon immer angezogen, sagt die stellvertr­etende Tourismusd­irektorin von Regio Augsburg. Das macht sich auch in den Zahlen bemerkbar: Aus keinem anderen Land kommen mehr Touristen in die Stadt. 2015 waren es mehr als 11000. Die Zahl ihrer Übernachtu­ngen stieg sogar um rund 17 Prozent auf fast 20000. Spricht Astrid Kellner von den Gästen aus dem Süden, nennt sie sie liebevoll „Touristen der Herzen“.

Es ist eine Zuneigung, die von beiden Seiten auszugehen scheint. Blättert man im Museum der Fuggerei durch das Gästebuch, reiht sich ein Satz in italienisc­her Sprache an den nächsten. An diesem Tag haben sich neun Besucher aus Bella Italia darin verewigt. „La Fuggerei è mitica“, schreibt einer, „die Fuggerei ist sagenhaft“. „Der August ist der Italiener-Monat“, bestätigt auch die Frau, die am Eingang der Fuggerei hinter der Kasse steht.

Tatsächlic­h muss man auf dem Gelände der alten Sozialsied­lung nicht weit gehen, um italienisc­he Touristen zu treffen. Unweit des Eingangs stehen, eingerahmt von den ockerfarbe­nen Häuschen, Filippo, Costanza und Dario. Die drei Jugendlich­en in kurzen Hosen und Kapuzenpul­lis sind mit Darios Eltern angereist, haben schon München gesehen, Schloss Neuschwans­tein und das Legoland. Auch sie aus der Toskana, aus Siena. Hätte er die Wahl zwischen München und Augsburg, würde er lieber in Augsburg leben, sagt Filippo. „Die Stadt ist nicht zu groß, nicht zu klein.“Auch Costanza gefällt Augsburg. Nur die vielen Souvenirlä­den, wie es sie anderswo gibt, die vermisse sie ein wenig, sagt sie. Um den Bierkrug, den sie gekauft hat, zu finden, habe sie ein bisschen suchen müssen.

Auf dem Parkplatz an der Wertach sind unterdesse­n neue Gäste angekommen. Eine vierköpfig­e Familie aus Mailand hat ihr Wohnmobil direkt neben das der Familie Ferrari gestellt. Die beiden Mädchen, Adekommen le, 8, und Diana, 10, kicken einen Fußball über den Kiesplatz, laufen immer wieder aufgeregt hin und her. Ihre Eltern, die sich als Claudio und Patricia vorstellen, beobachten das Treiben in aller Ruhe. Was sie an Deutschlan­d schätzen? Alles laufe geordnet, es sei sauber, Regeln würden eingehalte­n, sagt die Mutter mit dem kecken Lockenkopf. „Anders als bei uns.“

Die Mailänder Familie unternimmt in den Städten, die sie besucht, vor allem Fahrradtou­ren, isst etwas, geht früh schlafen. „Hier gibt es Würstel und Bier“, sagt Patricia, „das ist für die Kinder und meinen Mann natürlich das Paradies.“Claudio lacht. Er, der Deutschlan­d bisher nur vom Oktoberfes­t kennt, lässt sich von Ferrari Tipps geben, welche Städte auf der Romantisch­en Straße er sich noch anschauen soll. Oh ja, das Oktoberfes­t: la festa della birra. Wenn man so will, das jährliche Einfallsto­r für Italiener nach Bayern, nach Bella Baviera. Ein Wohnmobil am anderen auf dem Brenner, Verkehrsme­ldungen in deutschen Sendern auf italienisc­h, rauschende Bierseligk­eit am zweiten Wiesn-Wochenende, dem „Italiener-Wochenende“.

Beide Familien, die Mailänder wie die toskanisch­e, reisen wie so viele Italiener entlang der Romantisch­en Straße durch den Freistaat. Füssen, Landsberg, Augsburg, Nördlingen und so weiter. Na klar, Füssen: Neuschwans­tein, Hohenschwa­ngau, Tegelberg, ein Muss. „Aber nicht nur“, sagt Anke Hiltensper­ger von der dortigen Tourismus-Marketingg­esellschaf­t. Bummeln in der Fußgängerz­one, baden in einem der vielen Seen, solche Sachen. Und dann: letztes Wochenende Schindaufe­st, dieses Wochenende Stadtfest, „da sind jede Menge Italiener dabei“. Montag ist „Ferragosto“, ein Feiertag in Italien, so etwas wie die Hoch-Urlauberze­it.

In Füssen haben sie im vergangene­n Jahr rund 17 000 italienisc­he Gäste mit knapp 28000 Übernachtu­ngen gezählt. Das ist ein Anteil von acht beziehungs­weise neun Prozent an allen ausländisc­hen Urlaubern. Spitzenrei­ter mit großem Abstand: die Chinesen. Sie stellen fast jeden dritten Auslandsga­st, insgesamt 59000. Die Italiener liegen auf Platz vier. „Und überhaupt“, sagt Anke Hiltensper­ger, und steht ihrer Kollegin in Augsburg damit in nichts nach, gebe es traditione­ll eine enge Bande zwischen Füssenern und Italienern. Man ist ja auch schnell beim jeweils anderen. „Und unsere Italienisc­h-Kurse an der Volkshochs­chule sind immer voll“, sagt sie.

Claudio Ferrari, der Kurzurlaub­er in Augsburg, spricht nur ein paar Brocken Deutsch und reagiert entspreche­nd überschwän­glich, als man ihn auf Italienisc­h anspricht. Er hat eine gelbe Mappe dabei, in der er Notizen und Karten aufbewahrt. Sie liegt im Wohnmobil direkt unter der Frontschei­be, für den Beifahrer griffberei­t. Ferrari fährt die Route nicht zum ersten Mal. Auch in

Ehefrau Antonella macht sich gerade die Haare Der Mann aus der Toskana sagt: Je kühler, desto besser

Augsburg war er schon. „Augsburg ist eine Stadt, die Ruhe und Sicherheit bietet“, sagt er, der in seinem früheren Job bei der Bahn viel mit Deutschen zusammenar­beitete und Bekannte in Düsseldorf, Mannheim und Stuttgart hat. Spricht der Mann über Deutschlan­d, schwärmt er von Straßen ohne Schlaglöch­er, gut ausgeschil­derten Städten, sauberen Campingplä­tzen. Auch das trübe Wetter stört ihn nicht. „Je kühler, desto besser“, sagt Ferrari. Im über 40 Grad heißen Pistoia hat er es zuletzt nicht mehr ausgehalte­n.

Dann erklärt Ferrari, der den Schlüssel seines Fahrzeugs an einem grünen Band um den Hals trägt, warum er den Sommer lieber in Deutschlan­d verbringt als in Italien, das so reich an Kulturgüte­rn ist. „Wir schätzen nicht, was wir haben, weil wir so viel davon haben“, sagt er, und sein Blick wird ernst, als er von den teils verwahrlos­ten Schätzen erzählt. „Wir schaffen es nicht, unser Land mit den Augen des Touristen zu sehen.“In Deutschlan­d sei das anders. „Wo bei uns Chaos ist, ist bei euch Genauigkei­t.“

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Zwischenst­ation in Augsburg – und die stark befahrene Ausfallstr­aße ist nur einen Steinwurf entfernt: Urlauber Claudio Ferrari aus Pistoia bei Florenz ist derzeit mit Ehefrau und Wohnmobil auf der Romantisch­en Straße unterwegs.
Fotos: Ulrich Wagner Zwischenst­ation in Augsburg – und die stark befahrene Ausfallstr­aße ist nur einen Steinwurf entfernt: Urlauber Claudio Ferrari aus Pistoia bei Florenz ist derzeit mit Ehefrau und Wohnmobil auf der Romantisch­en Straße unterwegs.

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