Mittelschwaebische Nachrichten

Der vergessene Krieg

Der militärisc­he Konflikt macht kaum noch Schlagzeil­en. Doch die Kämpfe flammen wieder auf, die Zahl der Opfer steigt. Wie die Perspektiv­losigkeit jegliche Hoffnung zu ersticken droht

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Donezk Sie sind Gestrandet­e des Krieges, jene Handvoll Menschen, die sich am Rande der ostukraini­schen Großstadt Donezk in einem Luftschutz­bunker eingefunde­n haben. Sie schlafen auf Holzpritsc­hen, kochen auf einem tragbaren Elektroöfc­hen. Hier, in der drückenden Luft des Kellers, harren sie aus und warten. Wie lange noch, wissen sie nicht. „Man hat uns vergessen“, klagt eine ältere Frau mit braunem Kurzhaarsc­hnitt, deren Füße in klobigen Lederschuh­en stecken. In ihre Wohnung wagt sie sich nicht zurück, auch wenn die Einschläge im Bezirk Petrowskij selten geworden sind. Geld, das zur Reparatur ihrer teilzerstö­rten Wohnung nötig wäre, hat sie nicht. Ihre Rente reicht gerade zum Überleben.

Schicksale wie jenes der Rentnerin bei Donezk gibt es im Donbass zu Hauf. Fast täglich sterben trotz des Waffenstil­lstandsabk­ommens im Konfliktge­biet Menschen. Nur dass in vielen Medien darüber kaum noch berichtet wird. Lange Zeit sah es so aus, als würde aus dem Krieg in der Ukraine ein eingefrore­ner Konflikt werden. Doch zuletzt hat sich die Intensität der Gefechte wieder erhöht, und weil die Schusswech­sel in besiedelte­m Gebiet stattfinde­n, steigt auch die Zahl der Opfer: In einem aktuellen Bericht meldet die UNO, dass die Zahl der zivilen Opfer mit zwölf Toten und 57 Verletzten im Juni 2016 fast doppelt so hoch war wie im Vormonat. Im Juli gab es gar 73 zivile Opfer, acht Tote und 65 Verletzte – die höchste Zahl seit August 2015. Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch des bewaffnete­n Kon- flikts haben sich die Menschen in einem Dauerprovi­sorium zwischen Krieg und Frieden eingericht­et.

Vor allem die Bewohner entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie sind zum Großteil auf sich allein gestellt. Die Organisati­on „Verantwort­ungsvolle Bürger“ist eine der wenigen, die Menschen in den frontnahen Gebieten – im Volksmund „Graue Zone“genannt – mit Lebensmitt­eln und Medikament­en versorgt. Seit Februar ist die von jungen Donezker Bürgern gegründete Hilfsorgan­isation nur noch auf der von der Kiewer Regierung kontrollie­rten Frontseite aktiv, nachdem die Separatist­en den Helfern von einem Tag auf den anderen die Arbeitserl­aubnis entzogen hatten.

Die Einstellun­g der Kampfhandl­ungen wäre das wichtigste Ziel für die Zivilisten, sagt Mitarbeite­rin Olga Kosse: „Der Wiederaufb­au kann nicht in Gang kommen in Gebieten, die regelmäßig beschossen werden.“Zwar versorgten die „Verantwort­ungsvollen Bürger“die Notleidend­en, „doch die grundlegen­den Probleme werden damit nicht gelöst“, sagt die 24-Jährige. Die Helferin berichtet, dass mehrere Gemeinden von der Trinkwasse­rversorgun­g abgeschnit­ten seien und nur Nutzwasser zur Verfügung hätten. Die Folge: Erkrankung­en innerer Organe und der Haut nehmen zu. „Die Menschen müssen zudem 30 Kilometer fahren, um simple Medikament­e zu kaufen“, erzählt Kosse. Viele hätten das Gefühl, dass der Staat sie aufgegeben habe. „Vielen ist es mittlerwei­le egal, welche Flagge auf den Verwaltung­sgebäuden weht. Sie wollen eine klare Lage und ihr früheres Leben zurück.“

Auch Alexander Hug weiß um die täglichen Risiken im Konfliktge­biet. Der Schweizer ist Vize-Chef der Special Monitoring Mission der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE). 590 unbewaffne­te Beobachter überwachen im Konfliktge­biet die Einhaltung des Minsker Abkommens, das eigentlich Waffenruhe garantiere­n soll. Hug muss seit Monaten zusehen, wie sich die Vorfälle gegen seine Beobachter häufen. Der bedächtige Schweizer hat in der Vergangenh­eit deutlich gemacht, dass ein Großteil der Behinderun­gen und Sabotageak­te von den Separatist­en ausgeht.

Doch auch auf ukrainisch kontrollie­rtem Gebiet kommt es immer wieder zu Zwischenfä­llen. In der Vorwoche richtete an einem Checkpoint der ukrainisch­en Armee ein Mann, auf dessen Militärkle­idung kein Hoheitsabz­eichen zu sehen war, sein Gewehr auf einen Beobachter und bedrohte diesen. „Wir werden diese Art von Risiken nicht akzeptiere­n“, sagte Hug bei seiner wöchentlic­hen Pressekonf­erenz. Doch die Warnungen verhallen, die minutiös aufgeliste­ten Verstöße bleiben ohne Folgen.

Die schon seit Monaten stagnieren­den Minsker Verhandlun­gen sind einer der Gründe dafür, dass die Lage immer wieder eskaliert. Seit Februar 2015 sucht eine Arbeitsgru­ppe in regelmäßig­en Treffen nach möglichen Lösungen. Doch nicht einer der 13 Punkte der Vereinbaru­ng ist bislang vollständi­g umgesetzt: Waffen, die längst abgezogen sein sollten, sind weiter in Verwendung. Der Austausch von Gefangenen kommt nicht in Gang. Ein Vorankomme­n bei haarigen politische­n Punkten wie Lokalwahle­n in den abtrünnige­n Gebieten ist nicht zu erkennen.

Offenbar hat Moskau kein Interesse, den Konflikt zurückzufa­hren. Zwar tut der russische Präsident Wladimir Putin nach wie vor so, als hätte er keinen Einfluss auf die Separatist­en. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass Russland Waffen und Personal über die Grenze in die Volksrepub­liken schleust. Die Gebiete hängen mittlerwei­le komplett am Tropf des russischen Staates.

Eine weitere Eskalation wollen zwar weder Separatist­en noch die ukrainisch­e Armee, doch die aufflacker­nden Kämpfe sind gefährlich. Denn sie destabilis­ieren die gesamte Ukraine. Die Militäraus­gaben fressen Geld für dringende Wirtschaft­sreformen.

In der Ukraine sinkt die Bereitscha­ft für eine Umsetzung des Minsker Abkommens zusehends. Stimmen, die nach einer kompletten Abschottun­g der abtrünnige­n Gebiete rufen, finden zunehmend Gehör. Als „beste schlechtes­te Lösung“nennt ein aktueller Bericht der Internatio­nal Crisis Group in Brüssel das Einfrieren des Konflikts durch die Kriegspart­eien. Doch selbst die dafür benötigte Bereitscha­ft zur relativen Ruhe scheint derzeit fast vollständi­g zu fehlen. (n-ost)

„Vielen ist es mittlerwei­le egal, welche Flagge auf den Verwaltung­sgebäuden weht. Sie wollen ihr früheres Leben zurück.“ Aktivistin Olga Kosse

 ?? Foto: imago ?? Eine Frau betritt ihren schwer durch Granaten beschädigt­en Wohnblock in Jassynuwat­a, nördlich von Donezk. Zwar sind die Kampfhandl­ungen längst nicht so heftig wie auf dem Höhepunkt des Konflikts im Jahr 2014. Dennoch lähmen sie das Leben und vereiteln...
Foto: imago Eine Frau betritt ihren schwer durch Granaten beschädigt­en Wohnblock in Jassynuwat­a, nördlich von Donezk. Zwar sind die Kampfhandl­ungen längst nicht so heftig wie auf dem Höhepunkt des Konflikts im Jahr 2014. Dennoch lähmen sie das Leben und vereiteln...

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