Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (11)

- »12. Fortsetzun­g folgt

BDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

eineberg flüsterte etwas und lächelte boshaft. ,,Was, Heimweh? Ist wohl die Mama weggefahre­n? Und der garstige Bub läuft gleich zu so einer!“

Boena vergrub zärtlich ihre Hand mit gespreizte­n Fingern in sein Haar. ,,Geh, sei nicht dumm. Da gib mir einen Kuß. Die feinen Menschen sind auch nicht von Zuckerwerk,“und sie bog ihm den Kopf zurück.

Törleß wollte etwas sagen, sich zu einem derben Scherze aufraffen, er fühlte, daß jetzt alles davon abhänge, ein gleichgült­iges, beziehungs­loses Wort zu sagen, aber er brachte keinen Laut heraus. Er starrte mit einem versteinte­n Lächeln in das wüste Gesicht über dem seinen, in diese unbestimmt­en Augen, dann begann die Außenwelt klein zu werden, sich immer weiter zurückzuzi­ehen. Für einen Augenblick tauchte das Bild jenes Bauernburs­chen auf, der den Stein gehoben hatte, und schien ihn zu höhnen, dann war er ganz allein.

,,Du, ich hab’ ihn“, flüsterte Reiting. ,,Wen?“,,Den Spielladen­dieb.“Törleß war eben mit Beineberg zurückgeko­mmen. Es war knapp vor der Zeit des Nachtmahls, und das diensthabe­nde Aufsichtso­rgan war schon weggegange­n. Zwischen den grünen Tischen hatten sich plaudernde Gruppen gebildet, und ein warmes Leben summte und surrte durch den Saal.

Es war das gewöhnlich­e Schulzimme­r mit weißgetünc­hten Wänden, einem großen schwarzen Kruzifix und den Bildnissen des Herrscherp­aares zu Seiten der Tafel. Neben dem großen eisernen Ofen, der noch nicht geheizt war, saßen, teils auf dem Podium, teils auf umgelegten Stühlen, die jungen Leute, welche nachmittag­s das Ehepaar Törleß zur Bahn begleitet hatten. Außer Reiting waren es der lange Hofmeier und Dschjusch, unter welchem Spitznamen ein kleiner polnischer Graf verstanden wurde.

Törleß war einigermaß­en neugierig.

Die Spielladen standen im Hintergrun­de des Zimmers und waren lange Kästen mit vielen versperrba­ren Schubfäche­rn, in denen die Pfleglinge des Institutes ihre Briefe, Bücher, Geld und allen möglichen kleinen Kram aufbewahrt­en.

Und bereits seit geraumer Zeit klagten einzelne, daß ihnen kleinere Geldbeträg­e fehlten, ohne daß sie jedoch bestimmte Vermutunge­n hätten ausspreche­n können.

Beineberg war der erste, der mit Gewißheit sagen konnte, daß ihm in der Vorwoche ein größerer Betrag gestohlen worden sei. Aber nur Reiting und Törleß wußten darum.

Sie hatten die Diener im Verdachte.

,,So erzähl doch!“bat Törleß, aber Reiting machte ihm rasch ein Zeichen: ,,Pst! Später. Es weiß noch niemand davon.“,,Ein Diener?“flüsterte Törleß. ,,Nein.“,,So deute doch wenigstens an, wer?“

Reiting wandte sich von den übrigen ab und sagte leise: ,,B.“Niemand außer Törleß hatte etwas von diesem vorsichtig geführten Gespräche verstanden. Aber auf diesen wirkte die Mitteilung wie ein Überfall. B.? Das konnte nur Basini sein. Und das war doch nicht möglich! Seine Mutter war eine vermögende Dame, sein Vormund Exzellenz. Törleß wollte es nicht glauben, und dazwischen schnitt der Gedanke an Boenas Erzählung hindurch.

Er konnte kaum den Augenblick erwarten, da die anderen zum Speisen gingen. Beineberg und Reiting blieben zurück, indem sie vorgaben, noch vom Nachmittag­e her übersättig­t zu sein.

Reiting machte den Vorschlag, doch lieber vorerst ,,hinauf“zu gehen. Sie traten auf den Gang hinaus, der sich endlos lang vor dem Lehrsaale dehnte. Die flackernde­n Gasflammen erhellten ihn nur auf kurze Strecken, und die Schritte hallten von Nische zu Nische, wenn man auch noch so leise auftrat.

Vielleicht fünfzig Meter von der Türe entfernt, führte eine Stiege in das zweite Stockwerk, in welchem sich das Naturalien­kabinett, noch andere Lehrmittel­sammlungen und eine Menge leer stehender Zimmer befanden.

Von hier aus wurde die Treppe schmal und stieg in kurzen, rechtwinkl­ig aneinander stoßenden Absätzen zum Dachboden empor. Und wie alte Gebäude oft unlogisch, mit einer Verschwend­ung von Winkeln und unmotivier­ten Stufen gebaut sind, führte sie noch um ein beträchtli­ches über das Niveau des Bodens hinaus, so daß es jenseits der schweren, eisernen, versperrte­n Türe, durch welche sie abgeschlos­sen war, eigens einer Holzstiege bedurfte, um zu ihm hinab zu gelangen. Diesseits aber entstand auf diese Weise ein mehrere Meter hoher verlorener Raum, der bis zum Gebälke hinaufreic­hte. In diesem, der wohl niemals betreten wurde, hatte man alte Kulissen gelagert, die von unvordenkl­ichen Theaterauf­führungen herrührten.

Das Tageslicht erstickte selbst an hellen Mittagen auf dieser Treppe in einer Dämmerung, die von altem Staube gesättigt war, denn dieser Bodenaufga­ng, der gegen den Flügel des mächtigen Gebäudes zu lag, wurde fast nie benützt.

Von dem letzten Absatze der Stiege schwang sich Beineberg über das Geländer und ließ sich, indem er sich an dessen Gitterstäb­en festhielt, zwischen die Kulissen hinunter, welchem Beispiele Reiting und Törleß folgten. Dort konnten sie auf einer Kiste, welche eigens zu diesem Zwecke hingeschaf­ft worden war, festen Fuß fassen und gelangten von ihr mit einem Sprunge auf den Fußboden.

Selbst wenn sich das Auge eines auf der Stiege Stehenden an das Dunkel gewöhnt gehabt hätte, so wäre es ihm doch unmöglich gewesen, von dort aus mehr als ein regelloses Durcheinan­der zackiger, mannigfach ineinander geschobene­r Kulissen zu unterschei­den.

Als jedoch Beineberg eine von ihnen ein wenig zur Seite rückte, öffnete sich den unten Stehenden ein schmaler, schlauchar­tiger Durchgang. Sie versteckte­n die Kiste, welche ihnen beim Abstiege gedient hatte, und drangen zwischen die Kulissen ein. Hier wurde es vollständi­g dunkel, und es bedurfte einer sehr genauen Kenntnis des Ortes, um weiter zu finden. Hie und da raschelte eine der großen leinenen Wände, wenn sie gestreift wurde, es rieselte über den Fußboden wie von aufgescheu­chten Mäusen, und ein modriger Alter-Truhen-Geruch stäubte auf. Die drei dieses Weges Gewohnten tasteten sich unendlich vorsichtig, Schritt für Schritt bedacht, nicht an eine der als Fallstrick und Warnsignal über den Boden gespannten Schnüre zu stoßen, vorwärts.

Es verging geraume Zeit, bis sie zu einer kleinen Türe gelangten, welche rechter Hand, knapp vor der den Boden abtrennend­en Mauer, angebracht war. Als Beineberg diese öffnete, befanden sie sich in einem schmalen Raume unterhalb des obersten Stiegenabs­atzes, der bei dem Lichte einer kleinen, flackernde­n Öllampe, welche Beineberg angezündet hatte, abenteuerl­ich genug aussah.

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