Mittelschwaebische Nachrichten

Es war einmal ein Skandal

Die Uraufführu­ng endete 1972 im Tumult. Nun ist Thomas Bernhards Drama „Der Ignorant und der Wahnsinnig­e“zurück in Salzburg. Es wird doch nicht wieder…

- VON MICHAEL SCHREINER

Salzburg Große, krachende Bühnenskan­dale sind rar und der Theaterwel­t daher naturgemäß kostbar, weshalb auch nach 44 Jahren jenes Festspield­onnerwette­r von Salzburg noch immer nachhallt, das die Uraufführu­ng von Thomas Bernhards Drama „Der Ignorant und der Wahnsinnig­e“1972 begleitete. Regisseur Claus Peymann, damals wild und 35, wünschte zum Ende des Stücks komplette, totale Finsternis im Landesthea­ter – auch die Notbeleuch­tung im Saal sollte gelöscht werden. Was bei der Generalpro­be noch klappte, wurde zur Premiere entgegen der Absprachen aber überrasche­nd verweigert – aus feuerpoliz­eilichen Gründen. Die Folge: Tumult. Größtmögli­cher Skandal.

Es gab keine weiteren Aufführung­en. Regisseur, Schauspiel­er und Autor verweigert­en im Zorn. Aufruhr in Salzburg! Peymann beschimpft­e die Festspiell­eitung als „verlogenes Pack“und „Schweinehu­nde“. Thomas Bernhard schrieb: „Eine Gesellscha­ft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus.“

Und nun also ist das Stück zurückgeke­hrt nach Salzburg ins Landesthea­ter. Eine Neuinszeni­erung, in der, schon damit Aussicht auf weiteren Skandal trübend, ausgerechn­et der künstleris­che Leiter der Festspiele, Sven-Eric Bechtolf, die Hauptrolle übernahm. Der Schauspiel­er und Festspielc­hef exponiert sich selbst in der Manege: Das ist immerhin mutig. Denn wie heißt es in Bernhards Drama: Das Theater ist voller Intrigante­n, das Theater ist die Hölle, die Kunst ist eine ungeheure Nervenansp­annung … Geht es nach dem Jubel des Premierenp­ublikums am Sonntagabe­nd, ist Bechtolf nicht nur ungerupft und skandalfre­i aus der Geschichte herausgeko­mmen, sondern er hat – unterstütz­t von Christian Grashof (Vater) und Annett Renneberg (Königin der Nacht) – triumphier­t. Das Licht im Saal in der Schlusssze­ne? Regisseur Gerd Heinz, ein Routinier von 75 Jahren, hat die Skandal-Sollbruchs­telle ebenso geschickt wie erwartbar geheilt: Gleißendes, alles überstrahl­endes Licht, das wattstarke Gegenteil von stockfinst­er.

Ähnlich versöhnlic­h, geschmeidi­g, tadellos und unterhalts­am war diese Neuinszeni­erung – eine anregende, muntere Salonkomöd­ie mit nur wohldosier­ten Tauchgänge­n in die Kälte und Abgründe Bernhard’scher Finsternis. Das Drama kreist um eine kapriziöse Opernsänge­rin, die als „Königin der Nacht“in Mozarts „Zauberflöt­e“brilliert. Vor ihrem 222. Auftritt warten der Doktor und der trunksücht­ige, blinde Vater der Koloraturs­ängerin in deren vor Blumensträ­ußen über- quellender Garderobe (Zeichen von Verehrung und Begräbnis zugleich) auf die Künstlerin, die wie immer in letzter Minute eintrifft. Im zweiten Akt sitzen die drei im Restaurant „Drei Husaren“beim Essen, wo sich die Opernsänge­rin schließlic­h entscheide­t, ihre nächsten Auftritte abzusagen. Letzte Worte: „Erschöpfun­g, nichts als Erschöpfun­g.“

Das Stück ist vor allem ein typisch Bernhard’scher Monolog einer einzigen Figur: der des Doktors (Sven-Eric Bechtolf), der zweieinhal­b Stunden über das Theater, die Kunst und die Künstlichk­eit, das Leben und die Welt räsoniert, während er zugleich immer wieder höchst detaillier­t und überaus präzise das Sezieren einer Leiche beschreibt. Bernhard hat das herrlich diabolisch konstruier­t: Wo die Sängerin sich zweifelnd absentiert, redet der Doktor davon, wie bei einer Leiche Mundhöhle und Gaumen aufgeschni­tten und die Zunge herausgeno­mmen wird, wo das Knorpelmes­ser anzusetzen ist… Alle Kunst und alle Kunstferti­gkeit sind vergeblich: Der Tod steht am Ende, alles wird nichts. „Wenn wir etwas erreicht haben, und sei es das Höchste, sehen wir, dass es nichts ist“, lässt Bernhard seinen Doktor sagen. „Das Leben ist eine Tortur – wer das nicht begreift …“Jeder bleibt in diesem narzisstis­chen Spiel für sich (die Bühne ist verspiegel­t) – in der Nussschale seiner eigenen Welt sitzend, die auf einem Meer von Sinnlosigk­eit schaukelt. „Wer am Ziel ist, ist naturgemäß todunglück­lich“, heißt es einmal.

Wie Bechtolf diesen dauerdozie­renden Doktor gibt, ist einerseits bewunderns­wert und kunstferti­g. Wie er die gewaltige Textmenge vollkommen fehlerfrei deklamiert und Silbe für Silbe genüsslich betont, als habe er Angst, auch nur eine Silbe zu verschluck­en oder aus der teuren Thomas-Bernhard-Karaffe zu verschütte­n, wie er das Musikalisc­he der Bernard’schen Suaden klanggenie­ßerisch und für jeden Hörbuchmit­schnitt tauglich zelebriert: das ist gekonnt. Einerseits. Anderersei­ts aber wirkt Bechtolf wie ein überanstre­ngter Meistersch­üler der Thomas-BernhardTh­eatergesch­ichte, der alles besonders gut und richtig machen will – und dabei etwas vergisst, was neben aller Sprachvirt­uosität eben auch auf die Bühne gehört: Beseelthei­t. Eine Figur, die lebt und die Abgründe durchlebt. Die diesen irren Parforceri­tt zwischen Komödie und Tragödie durchleide­t und die Verzweiflu­ng nicht nur vorspielt.

Guter Abend. Kein Skandal. Festspiel. Einerseits. Anderersei­ts: Nummer sicher ohne Wagnis.

Wieder am 17., 18., 20., 22., 24., 26. und 27. August

 ?? Foto: Ruth Walz, Salzburger Festspiele ?? Wir müssen reden: Sven-Eric Bechtolf (Doktor), Annett Renneberg (Königin der Nacht), Christian Grashof (Vater), Michael Rotschopf (Kellner Winter) in der Salzburger Neuinszeni­erung von „Der Ignorant und der Wahnsinnig­e“.
Foto: Ruth Walz, Salzburger Festspiele Wir müssen reden: Sven-Eric Bechtolf (Doktor), Annett Renneberg (Königin der Nacht), Christian Grashof (Vater), Michael Rotschopf (Kellner Winter) in der Salzburger Neuinszeni­erung von „Der Ignorant und der Wahnsinnig­e“.

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