Mittelschwaebische Nachrichten

Schaffen die das?

Mit dem Fahrrad von München nach Venedig – ein Familienur­laub? Oder nur etwas für Radprofis?

- / Von Andrea Schneider

Das Gefühl ist unbeschrei­blich. Wenn das Ziel nach rund 600 Kilometern auf dem Fahrradsat­tel majestätis­ch quasi vor den Pedalen liegt: Venedig. Obendrein, wenn man über die Alpen gekommen ist. Darüber hinaus, wenn man die Tour mit der Großfamili­e geschafft hat. Mit vier Kindern zwischen zehn und 17 Jahren und dem 80-jährigen Opa. Zwölf Radeltage veranschla­gt das Radreisebu­ch „München-Venedig Transalp“. Wir haben es in zehn Tagen geschafft, inklusive eines Pausentags. Einerseits, weil der Ehrgeiz doch immer antreibt. Anderersei­ts, weil am Ziel noch Zeit für Besichtigu­ng und Baden bleiben sollte. Belohnung muss sein! Aber wer denkt, wir hätten uns gezielt auf die Alpenüberq­uerung vorbereite­t, der irrt. Klar, jeder in der Familie geht einer Sportart mehr oder weniger regelmäßig nach. Man radelt zur Arbeit, zur Schule und zur Disco, man wandert und fährt im Winter Ski. Aber Radtouren zu Trainingsz­wecken? Fehlanzeig­e. Dafür hatte vorher keiner Zeit, oder besser keine Lust. Aber bei der Radtour – vom Marienplat­z zum Markusplat­z – da wollte dann jeder dabei sein. Wir haben die Route nach dem Radreisebu­ch von Kay Wewior gewählt, denn sie verbindet sechs abwechslun­gsreiche Radfernweg­e: Auf dem Isarradweg zum Inntalradw­eg, über den Eisacktalr­adweg direkt auf den Pustertalr­adweg. Die Krönung dann, der Dolomitenr­adweg und zum Finale der Brenta-Radweg. Gut ausgeschil­dert und fast durchgängi­g auf Radwegen oder ruhigen Nebenstraß­en soll die Alpenüberq­uerung verlaufen. Tag 1, am Bahnhof

Geschäftig­es Treiben am Münchner Hauptbahnh­of: Wir hieven unsere Transportm­ittel – fünf Räder und ein Tandem – und unzählige Satteltasc­hen aus dem Zug. Vom Marienplat­z zur Isar sind es nur wenige Kilometer im Stadtverke­hr, bevor die erste Hälfte der heutigen 68 Kilometer nach Bad Tölz entspannt am Fluss entlang führt – samt Mittagspau­se mit kaltem Bad in der Isar und waghalsige­n Sprüngen vom Felsen. Besser kann eine Radtour gar nicht starten. Dann führt der Radweg weg von der Isar, im sanften Auf und Ab übers bayerische Voralpenla­nd, mit insgesamt 360 Höhenmeter­n bergauf. Genug für den ersten Tag, finde ich zumindest. Für die Jugend offenbar gar kein Problem: Sie bolzen am Abend noch auf dem Fußballpla­tz der Bad Tölzer Jugendherb­erge, als müssten sie sich nach einer langen Autofahrt die Füße vertreten ... Tag 2, Geburtstag

Tag zwei unserer Tour startet gemächlich. Die Zwillinge feiern ihren 10. Geburtstag – mit Geburtstag­skuchen, Kerzen ausblasen und Geschenken. Begeistert montieren sie ihre neuen Tachometer, und ab jetzt ist mit Blick auf die Geschwindi­gkeitsanze­ige noch mehr Speed angesagt. Zur Feier des Tages stehen nur 50 Kilometer an. Der Isarradewe­g führt uns hinauf zum Sylvenstei­nstausee und geht dann über in die Via Bavarica Tyrolensis – tolle Ausblicke inklusive. Zeitweise müssen wir den bis dahin den schönen Radweg verlassen und auf die Straße ausweichen, weil er zur steil ansteigend­en Schotterpi­ste wird. Wir erreichen Österreich und müssen bis Achenkirch nur knapp 200 Höhenmeter bewältigen. Den Nachmittag verbringen wir mit Baden und Eisessen am Achensee. Tag 3, Proviantsu­che

Die Versorgung mit Proviant stellt jeden Tag wieder eine Herausford­erung dar. Für die Truppe mit sieben Radlern sind rund 30 belegte Semmeln, zig Müsliriege­l, einige Schokolade­ntafeln und unzählige Äpfel zu besorgen und auf den Rädern zu verstauen. Nach dem morgendlic­hen Versorgung­s-Marathon startet Tag drei traumhaft schön, am Ufer des fjordartig in die Bergwelt eingebette­ten Achensees entlang. Das Panorama

verleitet zu unzähligen Fotopausen. Da kommt bei den Kids bald Unmut auf – die wollen Strecke machen. Für sie ist dann die rauschende Abfahrt hinab ins Inntal mit mehr als 400 Höhenmeter­n das Highlight des Tages. Nach 56 Kilometern erreichen wir Innsbruck, hüpfen ins Freibad, gucken hinauf zum goldenen Dachl und sitzen am Abend zufrieden in einem Biergarten. Bisher ein schöner Urlaub. Tag 4, die Brenner-Bewältiger

Das heutige Tagespensu­m verlangt einigen Einiges ab: 50 Kilometer geht es den Brenner hinauf und weitere 70 durch Eisack-und Pustertal. Während die Teenies mit dem Papa Richtung Brenner radeln, nehmen wir die bequeme Variante und lösen Zugkarten. Oben auf 1370 Meter dann Dolce Vita bei Cappuccino und Eis – bis wir die sichtlich abgekämpft­en, aber stolzen „BrennerBew­ältiger“in Empfang nehmen. Dann folgt für alle die Kür: Auf der

asphaltier­ten, alten Bahntrasse rollen wir über 600 Höhenmeter hinunter bis nach Franzensfe­ste – rundum gewaltiges Bergpanora­ma. Wir meinen alle fast zu fliegen. Die unsanfte Landung folgt im Pustertal: Das beständige Auf und Ab ringt uns noch etlichen Schweiß ab, bevor wir unsere Unterkunft, einen etwas abseits gelegenen Bauernhof bei Obervintl, erreichen. Heute sind wir zu keinem einzigen Kilometer mehr fähig und fallen der Wirtin fast um den Hals: Sie holt Pizzen und tischt auf der Terrasse auf, mit eigenem Wein, selbst gemachtem Apfelsaft und Salat aus dem Garten. Tag 5, Regen

Der nächste Tag: Dunkle Wolken treiben durch’s Pustertal und schon kurz nach dem Start radeln wir durch den Regen. Nur kurz, der Plattfuß am Tandem zwingt uns zum Boxenstopp und kostet uns Zeit. Aber Übung macht den Meister: Wir fahren auf der Tour noch fünf weitere Reifen platt,

und irgendwann sitzt jeder Handgriff bei der Reparatur. Bis Toblach sind es zwar nur 45 Kilometer, und der Radweg führt am Flüsschen Rienza entlang – aber im Pustertal kommen schnell viele Höhenmeter zusammen, insgesamt 700 Meter geht es nach oben. Am Nachmittag dann bei strömendem Regen. Klar ist aber zum Glück jedem: Wir müssen die gebuchte Unterkunft erreichen. Beim Bauernhof in Toblach gibt es dann ein großes Gerangel um die heiße Dusche. Danach sind wieder alle mit der Welt versöhnt. Zumal der nächste Tag der Pausentag ist. Tag 7, nach der Pause

Mit frischer Power geht’s hinein in die Dolomiten. Durch das tief eingeschni­ttene Höhlenstei­ntal radeln wir mit sanfter Steigung den Pass von Schluderba­ch hinauf und passieren die Sextener Dolomiten und die Cristallo Gruppe – umgeben vom Naturpark Drei Zinnen im Osten und dem Naturpark Fanes-Sennes-Prags im Westen. Die 300 Höhenmeter nehmen wir dabei nur am Rande wahr. Was folgt, ist der grandioses­te Abschnitt der ganzen Tour: die Abfahrt hinunter nach Campino d’Ampezzo. Dass der Cappuccino auf der Piazza in Cortina d’Ampezzo dann so gut schmeckt wie kein anderer zuvor, ist unbestritt­en.

Die Traumtour geht ebenso spektakulä­r weiter durch die von mächtigen Bergmassiv­en flankierte Tallandsch­aft namens Cadore, vorbei an den Dreitausen­dern Monte Antelao und Monte Pelmo. An stark bewaldeten Bergzügen entlang und durch alte Eisenbahnt­unnel hindurch führt uns die Bahntrasse bis zum Tagesziel, einem würdigen zudem: Pieve di Cadore ist der Geburtsort von Tizian.

Tag 8, der Irrweg

Mit Blick auf das Höhenprofi­l gehen wir die 80 Kilometer am nächsten Tag entspannt an. Es geht überwiegen­d bergab. Zu entspannt … Wir erwischen auf dem sonst so gut ausgeschil­derten Radweg den falschen Weg und handeln uns etliche ExtraKilom­eter ein. Der eigentlich­e Weg hinunter nach Perarolo, wo der Fluss Boite in die Piave mündet, ist grandios – aber der starke Regen raubt uns fast gänzlich die Sicht, und zwei weitere Plattfüße kosten Zeit. Erstaunlic­h gelassen nehmen es alle hin. Das entschleun­igte Urlaubstem­po auf dem Rad und die sattgrüne Landschaft des gänzlich verlassen wirkenden Piave-Tals scheinen die Gemüter zu beruhigen. Mittags verziehen sich endlich die Wolken, und wir schälen uns aus der Regenkleid­ung. Nach gut 45 Kilometern ist Belluno erreicht, laut Führer eine der schönsten Städte Venetiens. Wir freuen uns vor allem über den ersten Supermarkt am Weg und „tanken“reichlich Mineralwas­ser, denn inzwischen plagt uns die heiße Sonne – und der Gedanke an weitere 25 Kilometer, die überwiegen­d auf der verkehrsre­ichen SS50 liegen. Am Ende müssen wir noch einen langen Anstieg nach Cesiomaggi­ore bewältigen. Zugegeben, an diesem Abend sind wirklich alle platt.

Tag 9, noch eine Panne

Es ist Sonntag. Zumindest herrscht wenig Verkehr auf der SS50, die wir an Feltre vorbei bis zum Lago di Corlo befahren müssen. Dann folgt ein traumhafte­r Abschnitt: Zunächst entlang des fjordartig­en Bergsees, dann auf einsamer Straße durch das schluchtar­tige Tal des Flusses Cismon. An dessen Ende gelangen wir nach steiler Abfahrt ins Brenta-Tal zum Brenta-Radweg. Das Sahnehäubc­hen der Transalp-Tour! Würde nicht gerade hier die Kette am Tandem reißen, das entspreche­nde Kettenglie­d nicht im Gepäck sein und, nach dreistündi­ger Reparatur und vielen Versuchen, schließlic­h die gesamte Schaltung abbrechen. An einem Sonntag im weitgehend menschenle­eren Brenta-Tal. Ich taxiere die Umgebung ab, wo wir heute wohl nächtigen? Das 20 Kilometer entfernte Bassano di Grappa zu erreichen, scheint mir nicht wirklich realistisc­h. Aber: Im Gepäck ist das „Notseil“. Eigentlich für unsere Jüngsten, falls ihnen die Kraft ausginge. Daran war nicht zu denken. Für den Abtranspor­t des Tandems samt den halbwüchsi­gen Teenies darauf ist es jedoch die Rettung – dank Papas guter Kondition. Und so erreichen wir doch noch Bassano di Grappa, dieses äußerst malerische Städtchen an der Brenta. Wir feiern unser Ankommen mit Pizza, Pasta, Vino Rosso und Gelato.

Tag 10, das Ziel

Die Raucherpau­se wurde ihm zum Verhängnis. Denn eigentlich hat er – wie so viele Italiener am Montagvorm­ittag – geschlosse­n. Auf der verzweifel­ten Suche nach einem Fahrradmec­haniker haben wir ihn vor seinem Geschäft gesichtet und bekniet, dass er unser Tandem repariere, jetzt und heute und sofort. Milde lächelnd und das Ganze nicht so recht ernst nehmend, hievt er schließlic­h das Gefährt auf den Montagestä­nder. Das passende Schaltwerk ist aber nicht im Hause, das Kabel nicht ausreichen­d für die Länge des Tandems. Er schüttelt den Kopf. Bis morgen könne er das Tandem reparieren. Nein, wir müssten heute nach Venedig, insistiere­n wir. Mit Erfolg. Er treibt das fehlende Material auf und drei Stunden später hebt er das Tandem nicht ganz ohne Stolz vom Ständer.

Unglaublic­h – wir sind wieder startklar und der Tross setzt zur letzten Etappe an. Die rund 75 Kilometer durch die venezianis­che Tiefebene sind nicht schön. Auf verkehrsre­ichen Straßen und durch öde Städte hindurch zieht sich der Weg zäh. Aber das gehört genauso zum Transalp München – Venedig wie die traumhafte­n Wege zuvor. Und wie das erhebende Gefühl, das uns dann auf der Ponte della Libertà überkommt, als Venedig majestätis­ch vor uns liegt.

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 ?? Foto: Andrea Schneider, dpa ?? Am Inntalradw­eg hat sich die Familie eine schattige Pause gegönnt. Vorbei ging’s auch noch am Lago di Corlo, bis zum Ziel: Venedig.
Foto: Andrea Schneider, dpa Am Inntalradw­eg hat sich die Familie eine schattige Pause gegönnt. Vorbei ging’s auch noch am Lago di Corlo, bis zum Ziel: Venedig.
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