Mittelschwaebische Nachrichten
Schaffen die das?
Mit dem Fahrrad von München nach Venedig – ein Familienurlaub? Oder nur etwas für Radprofis?
Das Gefühl ist unbeschreiblich. Wenn das Ziel nach rund 600 Kilometern auf dem Fahrradsattel majestätisch quasi vor den Pedalen liegt: Venedig. Obendrein, wenn man über die Alpen gekommen ist. Darüber hinaus, wenn man die Tour mit der Großfamilie geschafft hat. Mit vier Kindern zwischen zehn und 17 Jahren und dem 80-jährigen Opa. Zwölf Radeltage veranschlagt das Radreisebuch „München-Venedig Transalp“. Wir haben es in zehn Tagen geschafft, inklusive eines Pausentags. Einerseits, weil der Ehrgeiz doch immer antreibt. Andererseits, weil am Ziel noch Zeit für Besichtigung und Baden bleiben sollte. Belohnung muss sein! Aber wer denkt, wir hätten uns gezielt auf die Alpenüberquerung vorbereitet, der irrt. Klar, jeder in der Familie geht einer Sportart mehr oder weniger regelmäßig nach. Man radelt zur Arbeit, zur Schule und zur Disco, man wandert und fährt im Winter Ski. Aber Radtouren zu Trainingszwecken? Fehlanzeige. Dafür hatte vorher keiner Zeit, oder besser keine Lust. Aber bei der Radtour – vom Marienplatz zum Markusplatz – da wollte dann jeder dabei sein. Wir haben die Route nach dem Radreisebuch von Kay Wewior gewählt, denn sie verbindet sechs abwechslungsreiche Radfernwege: Auf dem Isarradweg zum Inntalradweg, über den Eisacktalradweg direkt auf den Pustertalradweg. Die Krönung dann, der Dolomitenradweg und zum Finale der Brenta-Radweg. Gut ausgeschildert und fast durchgängig auf Radwegen oder ruhigen Nebenstraßen soll die Alpenüberquerung verlaufen. Tag 1, am Bahnhof
Geschäftiges Treiben am Münchner Hauptbahnhof: Wir hieven unsere Transportmittel – fünf Räder und ein Tandem – und unzählige Satteltaschen aus dem Zug. Vom Marienplatz zur Isar sind es nur wenige Kilometer im Stadtverkehr, bevor die erste Hälfte der heutigen 68 Kilometer nach Bad Tölz entspannt am Fluss entlang führt – samt Mittagspause mit kaltem Bad in der Isar und waghalsigen Sprüngen vom Felsen. Besser kann eine Radtour gar nicht starten. Dann führt der Radweg weg von der Isar, im sanften Auf und Ab übers bayerische Voralpenland, mit insgesamt 360 Höhenmetern bergauf. Genug für den ersten Tag, finde ich zumindest. Für die Jugend offenbar gar kein Problem: Sie bolzen am Abend noch auf dem Fußballplatz der Bad Tölzer Jugendherberge, als müssten sie sich nach einer langen Autofahrt die Füße vertreten ... Tag 2, Geburtstag
Tag zwei unserer Tour startet gemächlich. Die Zwillinge feiern ihren 10. Geburtstag – mit Geburtstagskuchen, Kerzen ausblasen und Geschenken. Begeistert montieren sie ihre neuen Tachometer, und ab jetzt ist mit Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige noch mehr Speed angesagt. Zur Feier des Tages stehen nur 50 Kilometer an. Der Isarradeweg führt uns hinauf zum Sylvensteinstausee und geht dann über in die Via Bavarica Tyrolensis – tolle Ausblicke inklusive. Zeitweise müssen wir den bis dahin den schönen Radweg verlassen und auf die Straße ausweichen, weil er zur steil ansteigenden Schotterpiste wird. Wir erreichen Österreich und müssen bis Achenkirch nur knapp 200 Höhenmeter bewältigen. Den Nachmittag verbringen wir mit Baden und Eisessen am Achensee. Tag 3, Proviantsuche
Die Versorgung mit Proviant stellt jeden Tag wieder eine Herausforderung dar. Für die Truppe mit sieben Radlern sind rund 30 belegte Semmeln, zig Müsliriegel, einige Schokoladentafeln und unzählige Äpfel zu besorgen und auf den Rädern zu verstauen. Nach dem morgendlichen Versorgungs-Marathon startet Tag drei traumhaft schön, am Ufer des fjordartig in die Bergwelt eingebetteten Achensees entlang. Das Panorama
verleitet zu unzähligen Fotopausen. Da kommt bei den Kids bald Unmut auf – die wollen Strecke machen. Für sie ist dann die rauschende Abfahrt hinab ins Inntal mit mehr als 400 Höhenmetern das Highlight des Tages. Nach 56 Kilometern erreichen wir Innsbruck, hüpfen ins Freibad, gucken hinauf zum goldenen Dachl und sitzen am Abend zufrieden in einem Biergarten. Bisher ein schöner Urlaub. Tag 4, die Brenner-Bewältiger
Das heutige Tagespensum verlangt einigen Einiges ab: 50 Kilometer geht es den Brenner hinauf und weitere 70 durch Eisack-und Pustertal. Während die Teenies mit dem Papa Richtung Brenner radeln, nehmen wir die bequeme Variante und lösen Zugkarten. Oben auf 1370 Meter dann Dolce Vita bei Cappuccino und Eis – bis wir die sichtlich abgekämpften, aber stolzen „BrennerBewältiger“in Empfang nehmen. Dann folgt für alle die Kür: Auf der
asphaltierten, alten Bahntrasse rollen wir über 600 Höhenmeter hinunter bis nach Franzensfeste – rundum gewaltiges Bergpanorama. Wir meinen alle fast zu fliegen. Die unsanfte Landung folgt im Pustertal: Das beständige Auf und Ab ringt uns noch etlichen Schweiß ab, bevor wir unsere Unterkunft, einen etwas abseits gelegenen Bauernhof bei Obervintl, erreichen. Heute sind wir zu keinem einzigen Kilometer mehr fähig und fallen der Wirtin fast um den Hals: Sie holt Pizzen und tischt auf der Terrasse auf, mit eigenem Wein, selbst gemachtem Apfelsaft und Salat aus dem Garten. Tag 5, Regen
Der nächste Tag: Dunkle Wolken treiben durch’s Pustertal und schon kurz nach dem Start radeln wir durch den Regen. Nur kurz, der Plattfuß am Tandem zwingt uns zum Boxenstopp und kostet uns Zeit. Aber Übung macht den Meister: Wir fahren auf der Tour noch fünf weitere Reifen platt,
und irgendwann sitzt jeder Handgriff bei der Reparatur. Bis Toblach sind es zwar nur 45 Kilometer, und der Radweg führt am Flüsschen Rienza entlang – aber im Pustertal kommen schnell viele Höhenmeter zusammen, insgesamt 700 Meter geht es nach oben. Am Nachmittag dann bei strömendem Regen. Klar ist aber zum Glück jedem: Wir müssen die gebuchte Unterkunft erreichen. Beim Bauernhof in Toblach gibt es dann ein großes Gerangel um die heiße Dusche. Danach sind wieder alle mit der Welt versöhnt. Zumal der nächste Tag der Pausentag ist. Tag 7, nach der Pause
Mit frischer Power geht’s hinein in die Dolomiten. Durch das tief eingeschnittene Höhlensteintal radeln wir mit sanfter Steigung den Pass von Schluderbach hinauf und passieren die Sextener Dolomiten und die Cristallo Gruppe – umgeben vom Naturpark Drei Zinnen im Osten und dem Naturpark Fanes-Sennes-Prags im Westen. Die 300 Höhenmeter nehmen wir dabei nur am Rande wahr. Was folgt, ist der grandioseste Abschnitt der ganzen Tour: die Abfahrt hinunter nach Campino d’Ampezzo. Dass der Cappuccino auf der Piazza in Cortina d’Ampezzo dann so gut schmeckt wie kein anderer zuvor, ist unbestritten.
Die Traumtour geht ebenso spektakulär weiter durch die von mächtigen Bergmassiven flankierte Tallandschaft namens Cadore, vorbei an den Dreitausendern Monte Antelao und Monte Pelmo. An stark bewaldeten Bergzügen entlang und durch alte Eisenbahntunnel hindurch führt uns die Bahntrasse bis zum Tagesziel, einem würdigen zudem: Pieve di Cadore ist der Geburtsort von Tizian.
Tag 8, der Irrweg
Mit Blick auf das Höhenprofil gehen wir die 80 Kilometer am nächsten Tag entspannt an. Es geht überwiegend bergab. Zu entspannt … Wir erwischen auf dem sonst so gut ausgeschilderten Radweg den falschen Weg und handeln uns etliche ExtraKilometer ein. Der eigentliche Weg hinunter nach Perarolo, wo der Fluss Boite in die Piave mündet, ist grandios – aber der starke Regen raubt uns fast gänzlich die Sicht, und zwei weitere Plattfüße kosten Zeit. Erstaunlich gelassen nehmen es alle hin. Das entschleunigte Urlaubstempo auf dem Rad und die sattgrüne Landschaft des gänzlich verlassen wirkenden Piave-Tals scheinen die Gemüter zu beruhigen. Mittags verziehen sich endlich die Wolken, und wir schälen uns aus der Regenkleidung. Nach gut 45 Kilometern ist Belluno erreicht, laut Führer eine der schönsten Städte Venetiens. Wir freuen uns vor allem über den ersten Supermarkt am Weg und „tanken“reichlich Mineralwasser, denn inzwischen plagt uns die heiße Sonne – und der Gedanke an weitere 25 Kilometer, die überwiegend auf der verkehrsreichen SS50 liegen. Am Ende müssen wir noch einen langen Anstieg nach Cesiomaggiore bewältigen. Zugegeben, an diesem Abend sind wirklich alle platt.
Tag 9, noch eine Panne
Es ist Sonntag. Zumindest herrscht wenig Verkehr auf der SS50, die wir an Feltre vorbei bis zum Lago di Corlo befahren müssen. Dann folgt ein traumhafter Abschnitt: Zunächst entlang des fjordartigen Bergsees, dann auf einsamer Straße durch das schluchtartige Tal des Flusses Cismon. An dessen Ende gelangen wir nach steiler Abfahrt ins Brenta-Tal zum Brenta-Radweg. Das Sahnehäubchen der Transalp-Tour! Würde nicht gerade hier die Kette am Tandem reißen, das entsprechende Kettenglied nicht im Gepäck sein und, nach dreistündiger Reparatur und vielen Versuchen, schließlich die gesamte Schaltung abbrechen. An einem Sonntag im weitgehend menschenleeren Brenta-Tal. Ich taxiere die Umgebung ab, wo wir heute wohl nächtigen? Das 20 Kilometer entfernte Bassano di Grappa zu erreichen, scheint mir nicht wirklich realistisch. Aber: Im Gepäck ist das „Notseil“. Eigentlich für unsere Jüngsten, falls ihnen die Kraft ausginge. Daran war nicht zu denken. Für den Abtransport des Tandems samt den halbwüchsigen Teenies darauf ist es jedoch die Rettung – dank Papas guter Kondition. Und so erreichen wir doch noch Bassano di Grappa, dieses äußerst malerische Städtchen an der Brenta. Wir feiern unser Ankommen mit Pizza, Pasta, Vino Rosso und Gelato.
Tag 10, das Ziel
Die Raucherpause wurde ihm zum Verhängnis. Denn eigentlich hat er – wie so viele Italiener am Montagvormittag – geschlossen. Auf der verzweifelten Suche nach einem Fahrradmechaniker haben wir ihn vor seinem Geschäft gesichtet und bekniet, dass er unser Tandem repariere, jetzt und heute und sofort. Milde lächelnd und das Ganze nicht so recht ernst nehmend, hievt er schließlich das Gefährt auf den Montageständer. Das passende Schaltwerk ist aber nicht im Hause, das Kabel nicht ausreichend für die Länge des Tandems. Er schüttelt den Kopf. Bis morgen könne er das Tandem reparieren. Nein, wir müssten heute nach Venedig, insistieren wir. Mit Erfolg. Er treibt das fehlende Material auf und drei Stunden später hebt er das Tandem nicht ganz ohne Stolz vom Ständer.
Unglaublich – wir sind wieder startklar und der Tross setzt zur letzten Etappe an. Die rund 75 Kilometer durch die venezianische Tiefebene sind nicht schön. Auf verkehrsreichen Straßen und durch öde Städte hindurch zieht sich der Weg zäh. Aber das gehört genauso zum Transalp München – Venedig wie die traumhaften Wege zuvor. Und wie das erhebende Gefühl, das uns dann auf der Ponte della Libertà überkommt, als Venedig majestätisch vor uns liegt.