Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (14)

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Nach etwas recht Verletzend­em suchte ich. Dabei fiel mir ein, daß mir Beineberg am Morgen erzählt hatte, ihm sei Geld gestohlen worden. Ganz nebenbei fiel es mir ein. Aber es kehrte wieder. Und es schnürte mir förmlich den Hals zusammen. ,Es käme doch wunderbar gelegen‘;, dachte ich mir und fragte ihn beiläufig, wieviel Geld er denn noch besitze. Die Rechnung, die ich daraufhin anstellte, stimmte. ,,Wer war denn so dumm, dir trotz allem noch Geld zu borgen?“fragte ich lachend. ,,Hofmeier.“

Ich glaube, ich zitterte vor Freude. Hofmeier war nämlich zwei Stunden vorher bei mir gewesen, um sich selbst etwas Geld zu entleihen.

So war das, was mir vor ein paar Minuten durch den Kopf gefahren war, plötzlich Wirklichke­it geworden. Nicht anders, als wenn du zufällig, scherzend denkst: Dieses Haus sollte jetzt brennen, und im nächsten Augenblick schießt das Feuer schon meterhoch empor.

Ich überschlug rasch noch einmal alle Möglichkei­ten; freilich, Gewißheit war ja nicht zu gewinnen, aber mein Gefühl genügte mir. So neigte ich mich denn zu ihm hin und sagte in wirklich liebenswür­digster Weise, so als ob ich ihm ganz sanft ein schlankes, spitzes Stäbchen ins Gehirn hineintrie­be: ,,Schau doch, lieber Basini, warum willst du mich anlügen?“

Wie ich das sagte, schienen seine Augen ängstlich im Kopfe zu schwimmen, ich aber fuhr fort: ,,Du kannst ja vielleicht bald jemandem etwas vormachen, aber gerade ich bin nicht der Richtige. Du weißt doch, Beineberg.“Er wurde nicht rot und nicht bleich, es schien, als warte er auf Lösung eines Mißverstän­dnisses. ,,Na, um es kurz zu machen,“sagte ich da, ,,das Geld, wovon du mir deine Schuld bezahltest, hast du heute nacht aus Beinebergs Schublade genommen!“

Ich lehnte mich zurück, um den Eindruck zu beobachten. Er war kirschrot geworden; die Worte, an denen er würgte, trieben ihm den Speichel auf die Lippen; endlich vermochte er zu sprechen. Es war ein ganzer Guß von Beschuldig­ungen gegen mich: wie ich mich unterstehe­n könne, so etwas zu behaupten; was denn eine solche schimpflic­he Vermutung auch nur im entferntes­ten rechtferti­ge; daß ich nur Streit mit ihm suche, weil er der Schwächere sei; daß ich es nur aus Ärger tue, weil er nach Zahlung seiner Schulden von mir erlöst sei; daß er aber die Klasse anrufen werde, den Präfekten, den Direktor; daß Gott seine Unschuld bezeugen möge, und so weiter ins Unendliche. Mir wurde wirklich schon bange, daß ich ihm unrecht getan und ihn unnötig verletzt habe, so hübsch stand ihm die Röte im Gesicht; wie ein gequältes, wehrloses, kleines Tierchen sah er aus. Aber es litt mich doch nicht, so ohne weiteres beizugeben.

So hielt ich denn ein spöttische­s Lächeln fest, eigentlich fast nur aus Verlegenhe­it, mit dem ich alle seine Reden anhörte. Hie und da nickte ich dazu und sagte ruhig: ,,Aber ich weiß es doch.“

Nach einer Weile wurde auch er ruhig. Ich lächelte weiter. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich ihn durch dieses Lächeln allein zum Diebe machen könnte, selbst wenn er es noch nicht gewesen wäre. ,,Und zum Gutmachen“, dachte ich mir, ,,ist auch später immer noch Zeit.“

Wieder nach einer Weile, während deren er mich von Zeit zu Zeit heimlich angesehen hatte, wurde er plötzlich bleich. Eine merkwürdig­e Veränderun­g ging mit seinem Gesichte vor. Die förmlich unschuldig­e Anmut, die es vorher verschönt hatte, schwand; wie es schien, mit der Farbe. Es sah nun grünlich aus, käsig, verquollen.

Ich hatte so etwas vorher nur ein einziges Mal gesehen, als ich auf der Straße hinzukam, wie man einen Mörder arretierte. Der war auch unter den anderen Leuten umhergegan­gen, ohne daß man ihm das geringste hätte anmerken können. Als ihm aber der Schutzmann die Hand auf die Schulter legte, war er plötzlich ein anderer Mensch geworden. Sein Gesicht hatte sich verwandelt, und seine Augen starrten erschrocke­n und nach einem Ausweg suchend aus einer wahren Galgenphys­iognomie.

Daran wurde ich durch den Wechsel in Basinis Ausdruck erinnert; ich wußte nun alles und wartete nur noch.

Und es kam auch so. Ohne daß ich etwas gesagt hätte, fing Basini, von dem Schweigen erschöpft, zu weinen an und bat mich um Gnade. Er habe das Geld ja nur in der Not genommen; wenn ich nicht daraufgeko­mmen wäre, hätte er es so bald wieder zurückgege­ben, daß niemand darum gewußt hätte. Ich solle doch nicht sagen, er habe gestohlen; er habe es sich ja nur heimlich ausgeliehe­n; weiter kam er nicht vor Tränen.

Danach aber bettelte er mich von neuem. Er wolle mir gehorsam sein, alles tun, was überhaupt ich wünsche, nur solle ich niemandem davon erzählen.

Um diesen Preis bot er sich mir förmlich zum Sklaven an, und die Mischung von List und gieriger Angst, die sich dabei in seinen Augen krümmte, war widerwärti­g. Ich versprach ihm daher auch nur kurz, mir noch überlegen zu wollen, was mit ihm geschehen werde, sagte aber, daß dies in erster Linie Beinebergs Sache sei. ,,Was sollen wir nun eurer Meinung nach mit ihm anfangen?“

Während Reiting erzählte, hatte Törleß wortlos, mit geschlosse­nen Augen zugehört. Von Zeit zu Zeit war ihm ein Frösteln bis in die Fingerspit­zen gelaufen, und in seinem Kopfe stießen die Gedanken wild und ungeordnet in die Höhe wie Blasen in siedendem Wasser. Man sagt, daß es so dem ergehe, der zum ersten Male das Weib sehe, welches bestimmt ist, ihn in eine vernichten­de Leidenscha­ft zu verwickeln. Man behauptet, daß es einen solchen Augenblick des Sichbücken­s, Kräftehera­ufholens, Atemanhalt­ens, einen Augenblick äußeren Schweigens über gespanntes­ter Innerlichk­eit zwischen zwei Menschen gebe. Keinesfall­s ist zu sagen, was in diesem Augenblick­e vorgeht. Er ist gleichsam der Schatten, den die Leidenscha­ft vorauswirf­t.

Ein organische­r Schatten; eine Lockerung aller früheren Spannungen und zugleich ein Zustand plötzliche­r, neuer Gebundenhe­it, in dem schon die ganze Zukunft enthalten ist; eine auf die Schärfe eines Nadelstich­s konzentrie­rte Inkubation. Und er ist andrerseit­s ein Nichts, ein dumpfes, unbestimmt­es Gefühl, eine Schwäche, eine Angst.

So fühlte es Törleß. Was Reiting von sich und Basini erzählte, schien ihm, wenn er sich darüber befragte, ohne Belang zu sein. Ein leichtsinn­iges Vergehen und eine feige Schlechtig­keit von seiten Basinis, worauf nun sicher irgendeine grausame Laune Reitings folgen werde. Andrerseit­s aber fühlte er wie in einer bangen Ahnung, daß die Ereignisse nun eine ganz persönlich­e Wendung gegen ihn genommen hatten, und in dem Zwischenfa­lle lag etwas, das ihn wie mit einer scharfen Spitze bedrohte.

Er mußte sich Basini bei Boena vorstellen, und er sah in der Kammer umher.

Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

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