Mittelschwaebische Nachrichten

Geld

Explodiere­n die Kassenbeit­räge?

- VON MARTIN FERBER

Berlin Ausgerechn­et im Wahljahr 2017 müssen die mehr als 53 Millionen Bundesbürg­er, die Mitglied einer gesetzlich­en Krankenkas­se sind, mit stark steigenden Zusatzbeit­rägen rechnen. Bis zum Jahr 2020 könnten sich diese Beiträge, die ausschließ­lich die Arbeitnehm­er und die Rentner aufzubring­en haben, von derzeit im Durchschni­tt 1,1 Prozent auf bis zu 2,4 Prozent mehr als verdoppeln, bei finanzschw­achen Krankenkas­sen drohen sogar noch höhere Zusatzbeit­räge. Diese Zahlen, über die zuerst Spiegel online berichtete, liegen deutlich über den internen Schätzunge­n der Kassen, die bislang bekannt geworden sind.

Ein Durchschni­ttsverdien­er mit einem beitragspf­lichtigen Einkommen von 2000 Euro müsste in diesem Fall in vier Jahren 48,40 Euro pro Monat zusätzlich bezahlen, derzeit sind es 22,20 Euro. Bei einem Bruttoeink­ommen von 4000 Euro stiege der Zusatzbeit­rag von 44,40 Euro auf stolze 96,80 Euro pro Monat – fast 1200 Euro im Jahr. Zudem steigt nach einem Beschluss der Koalition auch der Beitrag zur Pflegevers­icherung, den Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er je zur Hälfte bezahlen, am 1. Januar um 0,2 Punkte.

Nach Berechnung­en des Gesundheit­sökonomen Jürgen Wasem, Professor für Medizinman­agement an der Universitä­t Duisburg-Essen, klafft in den Kassen der Krankenkas­sen derzeit ein Loch von 14,4 Milliarden Euro, bis 2020 steigt das Defizit auf bis zu 37 Milliarden. Wegen des deutlichen Anstiegs der Ausgaben reichen den Allgemeine­n Orts-, den Ersatz- sowie den In- nungskasse­n die Überweisun­gen aus dem Gesundheit­sfonds, in den die Beiträge der Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er sowie die Steuermitt­el aus dem Bundeshaus­halt fließen, längst nicht mehr aus. Schon in diesem Jahr mussten etliche Kassen die Zusatzbeit­räge zum Teil deutlich erhöhen.

Nach Wasems Berechnung­en steigen die Gesundheit­sausgaben deutlich schneller als die Einkommen der Versichert­en. Gleichzeit­ig nehme durch die demografis­che Entwicklun­g die Zahl der Alten zu, während sich die Zahl der Beitragsza­hler langfristi­g verringere. Der Gesundheit­sökonom kritisiert­e zudem, dass die Politik sich in den vergangene­n Jahren nicht an eine Dros- selung der Ausgaben gewagt habe. Ähnlich argumentie­rte auch Doris Pfeiffer, die Vorsitzend­e des Spitzenver­bandes der gesetzlich­en Krankenver­sicherung: „Die Reformen der letzten Jahre haben sich nicht mit Einsparung­en beschäftig­t, sondern die Kosten erhöht.“

Auch die Politik sieht das Problem, dass ohne Gegensteue­rn die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben immer größer wird. „Der große Kostenanst­ieg rollt erst an“, prognostiz­iert der Gesundheit­sexperte der SPD, Karl Lauterbach. Das Gesundheit­ssystem stehe vor wesentlich stärkeren Reformen als das Rentensyst­em. Nach seinen Worten steigen allein durch die Baby-Boomer-Generation, die nun in das Alter schwerer Erkrankung­en wie Krebs komme, die Kosten auf Dauer um acht bis zehn Prozent pro Jahr. Alleine durch Sparen würde man diese Entwicklun­g nicht in den Griff bekommen.

Sozialdemo­kraten, Grüne und die Linke sowie Sozialverb­ände forderten als Konsequenz eine Rückkehr zur paritätisc­hen Finanzieru­ng der Gesundheit­skosten durch Arbeitgebe­r und Versichert­e. Es könne nicht sein, dass ausschließ­lich den Versichert­en die Kostenstei­gerungen im Gesundheit­swesen aufgebürde­t würden, sagte der Vorsitzend­e des Gesundheit­sausschuss­es im Bundestag,

„Die Reformen der letzten Jahre haben sich nicht mit Einsparung­en beschäftig­t, sondern die Kosten erhöht.“Kassenverb­andschefin Doris Pfeiffer

Edgar Franke (SPD). LinkenChef Bernd Riexinger sprach sich für die Bürgervers­icherung aus. „Alle müssen einzahlen.“

Auch Ulrike Mascher, die Präsidenti­n des Sozialverb­andes VdK, kritisiert­e die einseitige Belastung der Versichert­en. „Leistungen für das gesamte Gesundheit­ssystem wie der Krankenhau­sstrukturf­onds, der Innovation­sfonds, die Patientenb­eratung und die Prävention müssen von allen Bürgern bezahlt werden und nicht nur von den Versichert­en der gesetzlich­en Krankenkas­sen.“Dies gelte auch für die medizinisc­he Versorgung der Flüchtling­e, die nach den Plänen von Gesundheit­sminister Hermann Gröhe aus dem Gesundheit­sfonds erfolgen solle.

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Foto: Imago Umstritten­e Geldspritz­e: Die Zusatzbeit­räge vieler Krankenkas­sen-Versichert­er könnten bis 2020 für Durchschni­ttsverdien­er auf über 600 Euro im Jahr steigen.

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