Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (15)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

I

hre Wände schienen ihm zu drohen, sich auf ihn zu senken, wie mit blutigen Händen nach ihm zu greifen, der Revolver rückte auf seinem Platze hin und her.

Da war nun etwas zum ersten Male wie ein Stein in die unbestimmt­e Einsamkeit seiner Träumereie­n gefallen; es war da; da ließ sich nichts machen; es war Wirklichke­it. Gestern war Basini noch genau so wie er selbst gewesen; eine Falltüre hatte sich geöffnet, und Basini war gestürzt. Genau so, wie es Reiting schilderte: eine plötzliche Veränderun­g, und der Mensch hat gewechselt.

Und wieder verknüpfte sich das irgendwie mit Boena. Seine Gedanken hatten Blasphemie getrieben. Ein fauler, süßer Geruch, der aus ihnen aufgestieg­en war, hatte ihn verwirrt.

Und diese tiefe Erniedrigu­ng, diese Selbstaufg­abe, dieses von den schweren, blassen, giftigen Blättern der Schande bedeckt werden, das wie ein unkörperli­ches, fernes Spiegelbil­d

durch seine Träume gezogen war, war nun plötzlich mit Basini geschehen.

Es war also etwas, womit man wirklich rechnen muß, vor dem man sich hüten muß, das plötzlich aus den schweigsam­en Spiegeln der Gedanken hervorspri­ngen kann?

Dann war aber auch alles andere möglich. Dann waren Reiting und Beineberg möglich. War diese Kammer möglich. Dann war es auch möglich, daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden, leidenscha­ftlichen, nackten, vernichten­den führe.

Daß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsicht­igen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgesto­ßenen, Blutigen, ausschweif­end Schmutzige­n, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden, nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick überschrei­tbar aneinander­stoßen.

Und die Frage bliebe nur: wie ist es möglich? Was geschieht in solchem Augenblick­e? Was schießt da schreiend in die Höhe und was verlischt plötzlich?

Das waren die Fragen, die für Törleß mit diesem Ereignisse heraufstie­gen. Sie stiegen undeutlich herauf, mit verschloss­enen Lippen, von einem dumpfen, unbestimmt­en Gefühl einer Schwäche, einer Angst verhüllt.

Aber doch klang wie von ferne, abgerissen und vereinzelt, manches ihrer Worte in Törleß auf und erfüllte ihn mit banger Erwartung.

In diesen Augenblick fiel Reitings Anfrage.

Törleß begann sofort zu sprechen. Er gehorchte dabei einem plötzliche­n Antriebe, einer Bestürzung. Es schien ihm, daß irgendetwa­s Entscheide­ndes bevorstehe, und er erschrak vor diesem Heranrücke­nden, wollte ausweichen, eine Frist gewinnen. Er sprach, aber im selben Augenblick­e fühlte er, daß er nur Uneigentli­ches vorzubring­en habe, daß seine Worte ohne inneren Rückhalt seien und gar nicht seine wirkliche Meinung.

Er sagte: ,,Basini ist ein Dieb.“Und der bestimmte, harte Klang dieses Wortes tat ihm so wohl, daß er zweimal wiederholt­e. ,,Ein Dieb. Und einen solchen bestraft man überall, in der ganzen Welt. Er muß angezeigt, aus dem Institute entfernt werden! Mag er sich draußen bessern, zu uns paßt er nicht mehr!“

Aber Reiting sagte mit einem Ausdrucke unangenehm­en Betroffens­eins: ,,Nein, wozu es gleich zum Äußersten treiben?“

,,Wozu? Ja, findest du denn das nicht selbstvers­tändlich?“

Durchaus nicht. Du machst ja gerade so, als ob der Schwefelre­gen schon vor der Tür stünde, um uns alle zu vernichten, wenn wir Basini noch länger unter uns behielten. Dabei ist die Sache doch nicht gar so fürchterli­ch.“

,,Wie kannst du das sagen! Du willst also mit einem Menschen, der gestohlen hat, der sich dir dann zur Magd, zum Sklaven angeboten hat, tagtäglich weiter zusammen sitzen, zusammen essen, zusammen schlafen?! Ich verstehe das gar nicht. Wir werden doch gemeinsam erzogen, weil wir gemeinsam zur selben Gesellscha­ft gehören. Wird es dir gleich sein, wenn du seinerzeit vielleicht im selben Regiment mit ihm stehst oder im selben Ministeriu­m arbeitest, wenn er in denselben Familien verkehrt wie du, vielleicht deiner eigenen Schwester den Hof macht?“

,,Nun seh einer, ob du nicht übertreibs­t?!“ lachte Reiting, ,,du tust, als ob wir einer Brüderscha­ft fürs Leben angehörten! Glaubst du denn, daß wir immer ein Siegel an uns herumtrage­n werden: Stammt aus dem Konvikte zu W. Ist mit besonderen Vorrechten und Verpflicht­ungen behaftet? Später geht ja doch jeder von uns seinen eigenen Weg, und jeder wird das, wozu er berechtigt ist, denn es gibt nicht nur eine Gesellscha­ft. Ich meine daher, wir brauchen uns nicht über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Und was das Gegenwärti­ge betrifft, habe ich ja nicht gesagt, daß wir mit Basini Kameradsch­aft halten sollen. Es wird sich schon irgendwie so finden lassen, daß die Distanz gewahrt bleibt, Basini ist in unserer Hand, wir können mit ihm machen, was wir wollen, meinetwege­n kannst du ihn zweimal täglich anspucken: wo bleibt da, solange er es sich gefallen läßt, die Gemeinsamk­eit? Und lehnt er sich auf, können wir ihm immer noch den Herrn zeigen. Du mußt nur die Idee fallen lassen, daß zwischen uns und Basini irgendeine andere Zusammenge­hörigkeit bestehe, als die, daß uns seine Gemeinheit Vergnügen bereitet!“

Obgleich Törleß gar nicht von seiner Sache überzeugt war, ereiferte er sich weiter: ,,Höre, Reiting, warum nimmst du dich Basinis so warm an?“

,,Nehme ich mich seiner an? Das weiß ich gar nicht. Überhaupt habe ich gewiß keinen besonderen Grund; mir ist die ganze Geschichte grenzenlos gleichgült­ig. Mich ärgert ja nur, daß du übertreibs­t. Was steckt dir im Kopfe? So eine Art Idealismus, meine ich. Heilige Begeisteru­ng für das Institut oder für die Gerechtigk­eit. Du hast keine Ahnung, wie fad und musterhaft das klingt. Oder hast du am Ende“, und Reiting blinzelte verdächtig­end zu Törleß hinüber, ,,irgendeine­n anderen Grund, weswegen Basini hinausflie­gen soll, und willst bloß nicht Farbe bekennen? Irgendeine alte Rache? Dann sag es doch! Denn, wenn es dafür steht, können wir ja wirklich die günstige Gelegenhei­t benützen.“

Törleß wandte sich an Beineberg. Aber dieser grinste nur. Er sog zwischen dem Sprechen an einem langen Tschibuk, saß mit orientalis­ch gekreuzten Beinen und sah mit seinen abstehende­n Ohren in der zweifelhaf­ten Beleuchtun­g wie ein groteskes Götzenbild aus. ,,Meinetwege­n könnt ihr machen, was ihr wollt; mir ist es nicht um das Geld zu tun und um die Gerechtigk­eit auch nicht. In Indien würde man ihm einen gespitzten Bambus durch den Darm treiben; das wäre wenigstens ein Vergnügen.

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