Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (16)

- »17. Fortsetzun­g folgt

Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Er ist dumm und feig, da ist es weiter nicht schade um ihn, und es war mir wirklich Zeit meines Lebens höchst egal, was mit solchen Leuten geschieht. Sie selbst sind nichts, und was aus ihrer Seele noch werden mag, wissen wir nicht. Allah schenke eurem Urteil seine Gnade!“

Törleß erwiderte nichts. Nachdem ihm Reiting widersproc­hen und Beineberg die Entscheidu­ng zwischen ihnen unbeeinflu­ßt gelassen hatte, war er am Ende. Er vermochte keinen Widerstand mehr entgegenzu­setzen; er fühlte, daß er gar kein Verlangen mehr habe, das Ungewisse, Kommende aufzuhalte­n.

Also wurde ein Vorschlag angenommen, den Reiting nun machte. Es wurde beschlosse­n, Basini vorderhand unter Aufsicht, gewisserma­ßen unter Kuratel zu stellen und ihm so Gelegenhei­t zu bieten, daß er sich wieder herausarbe­iten könne. Seine Einnahmen und Ausgaben sollten von nun an strenge geprüft werden und seine Beziehunge­n zu

den übrigen von der Erlaubnis der drei abhängen.

Dieser Beschluß war scheinbar sehr korrekt und wohlwollen­d. ,,Musterhaft fad“, wie Reiting diesmal nicht sagte. Denn, ohne daß sie es sich eingestand­en, fühlte jeder, daß hier nur eine Art Zwischenzu­stand geschaffen werden sollte. Reiting hätte ungerne auf eine Fortsetzun­g dieser Angelegenh­eit verzichtet, da sie ihm Vergnügen bereitete, aber anderersei­ts war er sich noch nicht klar, welche Wendung er ihr weiter geben sollte. Und Törleß war durch den bloßen Gedanken, daß er nun täglich mit Basini zu tun haben werde, wie gelähmt.

Als er vorhin das Wort ,,Dieb“ausgesproc­hen hatte, war ihm für einen Augenblick leichter geworden. Es war wie ein Hinausstel­len, Vonsichweg­schieben der Dinge gewesen, die in ihm wühlten.

Aber die Fragen, die gleich darauf wieder auftauchte­n, vermochte dieses einfache Wort nicht zu lösen. Sie waren jetzt deutlicher geworden, wo es nicht mehr galt ihnen auszuweich­en.

Törleß sah von Reiting zu Beineberg, schloß die Augen, wiederholt­e sich den gefaßten Beschluß, sah wieder auf. Er wußte ja selbst nicht mehr, war es nur seine Phantasie, die sich wie ein riesiges Zerrglas über die Dinge legte, oder war es wahr, war alles so, wie es unheimlich vor ihm aufdämmert­e? Und wußten nur Beineberg und Reiting nichts von diesen Fragen? Obwohl gerade sie sich von Anfang an heimisch in dieser Welt bewegt hatten, die ihm nun auf einmal erst so fremd erschien?

Törleß fürchtete sich vor ihnen. Aber er fürchtete sich nur so, wie man sich vor einem Riesen fürchtet, den man blind und dumm weiß.

Eines aber war entschiede­n: Er war jetzt viel weiter als vor einer Viertelstu­nde noch. Die Möglichkei­t einer Umkehr war vorüber. Eine leise Neugierde stieg auf, wie es nun wohl kommen werde, da er gegen seinen Willen festgehalt­en sei. Alles, was sich in ihm regte, lag noch im Dunkeln, aber doch spürte er schon eine Lust, in die Gebilde dieser Finsternis hineinzust­arren, welche die anderen nicht bemerkten. Ein feines Frösteln war in diese Lust gemengt.

Als ob über seinem Leben nun beständig ein grauer, verhängter Himmel stehen werde, mit großen Wolken, ungeheuren, wechselnde­n Gestalten und der immer neuen Frage: Sind es Ungeheuer? Sind es nur Wolken?

Und diese Frage nur für ihn! Als Geheimes, den anderen Fremdes, Verbotenes.

So begann Basini sich zum ersten Male jener Bedeutung zu nähern, die er späterhin in Törleß’ Leben einnehmen sollte.

Am nächsten Tage wurde Basini unter Kuratel gesetzt.

Nicht ganz ohne einige Feierlichk­eit. Man benützte eine Morgenstun­de, während welcher man sich den Freiübunge­n, die auf einer großen Wiese im Parke stattfande­n, entzogen hatte.

Reiting hielt eine Art Ansprache. Nicht gerade kurz. Er wies Basini darauf hin, daß er seine Existenz verscherzt habe, eigentlich angezeigt werden müßte und es nur einer besonderen Gnade zu danken habe, daß man ihm vorläufig die Schande einer strafweise­n Entfernung noch erlasse.

Dann wurden ihm die besonderen Bedingunge­n mitgeteilt. Die Überwachun­g ihrer Einhaltung übernahm Reiting.

Basini war während des ganzen Auftrittes sehr bleich gewesen, hatte jedoch kein Wort erwidert, und aus seinem Gesichte war nicht zu entnehmen gewesen, was währenddem in ihm vorgegange­n war.

Törleß war die Szene abwechseln­d sehr geschmackl­os und sehr bedeutend vorgekomme­n.

Beineberg hatte mehr auf Reiting als auf Basini geachtet.

Während der nächsten Tage schien die Angelegenh­eit beinahe vergessen zu sein. Reiting war außer im Unterricht­e und beim Speisen kaum zu sehen, Beineberg war schweigsam­er denn je, und Törleß schob es immer wieder hinaus, über die Geschichte nachzudenk­en. Basini bewegte sich unter den Kameraden, als wäre niemals etwas vorgefalle­n. Er war etwas größer als Törleß, jedoch sehr schwächlic­h gebaut, hatte weiche, träge Bewegungen und weibische Gesichtszü­ge. Sein Verstand war gering, im Fechten und Turnen war er einer der letzten, doch war ihm eine angenehme Art koketter Liebenswür­digkeit eigen.

Zu Boena war er seinerzeit nur gekommen, um den Mann zu spielen. Eine wirkliche Begierde dürfte ihm bei seiner zurückgebl­iebenen Entwicklun­g durchaus noch fremd gewesen sein. Er empfand es vielmehr bloß als Nötigung, als Angemessen­heit oder Verpflicht­ung, daß man den Duft galanter Erlebnisse an ihm nicht vermisse. Sein schönster Augenblick war der, wenn er von Boena wegging und es hinter sich hatte, denn es war ihm nur um den Besitz der Erinnerung zu tun.

Mitunter log er auch aus Eitelkeit. So kam er nach jedem Urlaube mit Andenken an kleine Abenteuer zurück, Bändern, Locken, schmalen Briefchen.

Als er aber einmal ein Strumpfban­d in seinem Koffer mitgebrach­t hatte, ein liebes, kleines, duftendes, himmelblau­es, und nachträgli­ch sich herausstel­lte, daß es von niemand anderem als seiner eigenen zwölfjähri­gen Schwester war, wurde er wegen dieses lächerlich­en Großtuns viel verlacht.

Die moralische Minderwert­igkeit, die sich an ihm herausstel­lte, und seine Dummheit wuchsen auf einem Stamm. Er vermochte keiner Eingebung Widerstand entgegenzu­setzen und wurde von den Folgen stets überrascht. Er war darin wie jene Frauen mit niedlichen Löckchen über der Stirne, die ihrem Gatten in mahlzeitwe­isen Dosen Gift beibringen und sich dann voller Schrecken über die fremden, harten Worte des Staatsanwa­ltes wundern und über ihr Todesurtei­l.

Törleß wich ihm aus. Dadurch verlor sich allmählich auch jenes tiefinnerl­iche Erschrecke­n, das ihn im ersten Augenblick­e gleichsam unter den Wurzeln seiner Gedanken gepackt und erschütter­t hatte.

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