Mittelschwaebische Nachrichten

Szenen aus Berlin-Wedding

Gewalt Die Polizei rückt im Soldiner Kiez an. Ein Routineein­satz. Bis eine wütende Menge die Beamten umstellt. Bis Sätze fallen wie: „Haut ab, das ist unsere Straße!“Schnell sind da wieder die alten Klischees. Dabei hat das Viertel die schlimmste­n Zeiten

- VON JANIS DIETZ

Unser Autor Janis Dietz hat sich im Berliner Problem-Viertel Wedding umgeschaut. Da rückt schon mal die Polizei an. Eine wütende Menge umstellt die Beamten. Es fallen Sätze wie: „Haut ab, das ist unsere Straße!“Mehr auf

Berlin Dienstagab­end, zwei Polizeibus­se halten an einer Kreuzung, hier im Soldiner Kiez, Stadtteil Wedding. Am Spielplatz an der Ecke, der erst vor einem Jahr eingeweiht wurde, sitzen jüngere und ältere Männer. Sie blicken kurz auf, dann reden sie weiter. Yousef Ayoub steigt aus einem der Busse und begrüßt ein paar Jugendlich­e, die in einem Hauseingan­g stehen, per Handschlag. Ihm folgen drei Polizisten in Uniform, auch sie werden freundlich begrüßt. Dann steigen die Jugendlich­en in die Polizeibus­se. Es geht zum Fußballspi­elen – Polizisten und Jugendlich­e gemeinsam.

Es ist gerade eine Woche her, dass sich an dieser Ecke Polizei und Anwohner unversöhnl­ich gegenübers­tehen. Es geht um einen Elfjährige­n, der mit seinen Freunden mehrmals ein Auto gestartet haben soll. Die Polizei beschreibt ihn als im Viertel bekannten Mehrfachtä­ter. Familienan­gehörige und Schaulusti­ge umringen die Beamten. Im Polizeiber­icht ist von einer „aggressive­n Menschenme­nge“die Rede, von bis zu 70 Personen, die teils die Arbeit behindert hätten. Sätze wie „Haut ab, das ist unsere Straße!“sollen gefallen sein. Die Polizei nimmt den Bruder des Elfjährige­n fest, nachdem er Platzverwe­ise ignorierte.

Schlagzeil­en wie „Wütender Mob stellt sich vor Elfjährige­n und beschimpft die Polizei“sind die Folge. Der Tenor: In Berlin hat die Polizei keine Macht mehr. Nur wenige Wochen vorher hatten 300 Polizisten die Teilräumun­g eines besetzten Hauses in der Rigaer Straße geschützt. Am Abend kam es zu massiven Ausschreit­ungen, mehr als 80 Menschen wurden in Gewahrsam genommen, über 100 Polizisten verletzt.

Yousef Ayoub, der im Soldiner Kiez aufgewachs­en ist und hier als Erzieher arbeitet, nimmt nach dem Vorfall Kontakt zu den Betroffene­n auf. Er bringt Polizei und die Familie des Elfjährige­n zusammen. Es sei ein erfolgreic­hes Gespräch mit der Polizei gewesen, berichtet der 32-Jährige. Und dass er es schade findet, dass die Situation „aus emotionale­n Gründen eskaliert“sei. Aber noch enttäuscht­er ist er über die Berichte in den Medien.

Ayoub zeigt ein Handyvideo, das während des Vorfalls am Spielplatz aufgenomme­n wurde. Viele Kinder sind darauf zu sehen, die sich um die Polizeibea­mten drängen, außerdem die aufgebrach­te Familie des Elfjährige­n. Dem Video nach zu urteilen sind es deutlich weniger als 70 Personen. Ayoub ist sich sicher: „Niemand hat ,Haut ab, das ist unsere Straße‘ gerufen.“

Drei Tage nach dem Einsatz am Spielplatz, nur ein paar hundert Meter entfernt: Die Polizei will eine Passantin ermahnen, weil sie bei Rot über die Ampel gegangen ist. Einem 23-Jährigen passt das nicht. Er eilt aus seinem Friseurlad­en, will von den Polizisten wissen, ob sie nichts Besseres zu tun hätten. Bis zu 30 Menschen kommen zusammen, es kommt zum Gerangel. Ein Polizist bekommt einen Ellbogenhi­eb ab und verletzt sich am Auge.

Gewalt gegen Polizisten und Ausschreit­ungen bei einfachen Einsätzen: Es scheint, als würde hier, mitten in Berlin, etwas aus den Fugen geraten. Polizeispr­echer Michael Gassen sagt, man sei von den Vorfällen nicht überrascht: „Es ist nicht die Regel, aber so etwas gab es vor Jahren auch schon.“

Der Soldiner Kiez ist seit langem ein Kriminalit­ätsschwerp­unkt. Die Arbeitslos­igkeit liegt bei 14 Prozent, zwei Drittel aller Kinder wachsen in Armut auf. Das Regierungs­viertel mit seinen futuristis­chen Bauten liegt um die Ecke – und doch scheint es weit, weit weg. Wer im Wedding durch die Straßen geht, sieht viele türkische Läden. Abseits der Hauptstraß­en sind die Häuser herunterge­kommen und mit Graffiti beschmiert.

Hier leben besonders viele junge Migranten. Yasin Bat ist einer von ihnen. Dass hier häufiger mal die Polizei vorfährt? Er nickt. „Meist, um Streitigke­iten zu schlichten.“Größere Einsätze seien selten. Der 18-Jährige hilft im Internetca­fé und Kiosk seiner Eltern aus. Das Café liegt an der Straße, wo es zum zweiten Vorfall kam. Seine Kundschaft ist bunt gemischt: Eine Mutter kauft Süßigkeite­n für ihre Kinder, sie spricht Türkisch. Ein Mann fragt in gebrochene­m Deutsch nach einem Internetpl­atz. Der Wedding sei nicht vergleichb­ar mit anderen Vierteln Berlins, sagt Bat, der hier aufgewachs­en ist. „Aber ich fühle mich wohl hier.“Afrikaner, Türken, Araber, Deutsche und auch viele Touristen kommen in den Laden, das gefällt Bat.

Diese verschiede­nen Kulturen will Yousef Ayoub zusammenbr­ingen. 2009 hat er das Projekt „Kiezbezoge­ner Netzwerkau­fbau“gegründet. Die Idee: Polizei und Jugendlich­e sollen sich kennenlern­en und Vorurteile abbauen. Als Ayoub das Projekt anstößt, ist der Soldiner Kiez in Verruf – Drogenhand­el und Kriminalit­ät sind alltäglich. Die Polizei rückt oft in Mannschaft­sstärke an. „Früher war das hier eine Nogo-Area“, gibt Ayoub zu. Eine Gegend, in die man nicht geht, wenn man hier nicht wohnt. In einer Grundschul­e finden die ersten gemeinsame­n Fußballspi­ele zwischen Polizisten und Kiezbewohn­ern statt.

Mittlerwei­le sind 28 Einrichtun­gen an dem Projekt beteiligt – Flüchtling­sheime, Jugendeinr­ichtungen, aber auch Kirchen und Moscheen. Es gibt gemeinsame Feste und Straßenthe­ater zum Thema Zivilcoura­ge. Mehrfach wurde der „Kiezbezoge­ne Netzwerkau­fbau“für seine Integratio­nsarbeit ausgezeich­net.

Nach den jüngsten Vorfällen im Kiez ist Ayoub ein gefragter Mann, gibt Interviews für Zeitungen und das Fernsehen. Immer wieder erzählt er von den großen Fortschrit­ten, die hier in puncto Integratio­n gemacht wurden. Trotzdem bleibt im bundesweit­en Medienecho das Bild der „No-go-Area“– auch, wenn selbst die Polizei betont, dass es die in Berlin nicht gibt. „Ich engagiere mich für den Kiez, das macht mich traurig, so was zu hören“, sagt Ayoub, dessen Eltern aus dem Libanon stammen.

Medien spekuliere­n über eine Beteiligun­g kriminelle­r Großfamili­en. Der Chef der Polizeigew­erkschaft, Rainer Wendt, warnt in der Welt vor „gut vernetzten, hochkrimin­ellen und sehr gewalttäti­gen“Großfamili­en. Knapp 20 solcher Clans soll es in Berlin geben, teils mit bis zu 500 Mitglieder­n. Im Westteil der Stadt, im Wedding und in Neukölln, leben vor allem arabische Großfamili­en, im Osten sind es Asiaten und Russen. Die Clans haben nur wenig

Die Arbeitslos­igkeit ist hoch, die Kinderarmu­t auch Hier ist man nicht sicher, sagen viele

Vertrauen in den Staat. Für Streitigke­iten gibt es eigene Friedensri­chter. Wendt spricht von „Parallelge­sellschaft­en“. Haben diese Clans für den Aufruhr gesorgt? Da werde oft zu schnell stigmatisi­ert, findet Polizeispr­echer Gassen. Derzeit gäbe es keine Erkenntnis­se über eine Beteiligun­g solcher Großfamili­en an den beiden jüngsten Vorfällen.

Weil in Berlin am 18. September die Wahlen zum Abgeordnet­enhaus anstehen, hat das Ganze auch eine politische Dimension. Der CDU-Innensenat­or Frank Henkel klagt, wie schwer es in den Problemkie­zen sei, „Recht und Ordnung durchzuset­zen“. Er will Gewalt gegen Polizisten härter bestrafen. „Die Sicherheit muss besser organisier­t sein als das Verbrechen“, steht auf einem Wahlplakat der FDP.

Im Soldiner Kiez, ein paar Straßen weiter, hängt ein AfD-Plakat: „Berlin braucht Respekt – Gegen Banden und Extremismu­s“ist darauf zu lesen. Darunter haben es sich an diesem Sommeraben­d einige Araber mit Wasserpfei­fen gemütlich gemacht. Bedrohlich wirkt das nicht. In ein paar Stunden werden die Polizeibus­se durch die Straße fahren, wieder am Kinderspie­lplatz halten. Früher flogen in solchen Situatione­n schon mal Eier oder Steine. Heute werden ein paar erschöpfte Jugendlich­e aussteigen und sich auf das nächste Fußballspi­el gegen die Polizisten freuen.

 ?? Foto: imago ?? Berlin-Wedding, Soldiner Kiez: Eine Gegend, in die man sich nicht mehr traut? Oder doch eine, die für ein friedliche­s Miteinande­r steht? Zum Besuch von Innenminis­ter Thomas de Maizière vor geraumer Zeit jedenfalls hing die Deutschlan­d-Flagge am Balkon.
Foto: imago Berlin-Wedding, Soldiner Kiez: Eine Gegend, in die man sich nicht mehr traut? Oder doch eine, die für ein friedliche­s Miteinande­r steht? Zum Besuch von Innenminis­ter Thomas de Maizière vor geraumer Zeit jedenfalls hing die Deutschlan­d-Flagge am Balkon.

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