Mittelschwaebische Nachrichten

Der streitbare Historiker

Nachruf Seine Thesen zum Nationalso­zialismus lösten unter Geschichts­forschern ein gewaltiges Echo aus. Es war so groß, dass Angela Merkel sich weigerte, eine Laudatio auf Ernst Nolte zu halten. Im Alter von 93 Jahren ist er gestorben

- Esteban Engel, dpa

Berlin Es war eine der brisantest­en Debatten der Nachkriegs­zeit: Vor 30 Jahren löste der Geschichts­wissenscha­ftler Ernst Nolte den deutschen Historiker­streit aus. Für Empörung sorgte seine These, die Ermordung der europäisch­en Juden durch Nazi-Deutschlan­d habe ihren Ursprung in den Verbrechen der sowjetisch­en Kommuniste­n. Woraufhin Nolte entschiede­nen Widerspruc­h erntete: Der Professor der Freien Universitä­t Berlin verharmlos­e die Nazis und begebe sich in die Nähe der Holocaust-Leugner, hieß es. Am Donnerstag ist Nolte nach kurzer Krankheit mit 93 Jahren in Berlin gestorben.

Seine Behauptung­en gelten unter Historiker­n als widerlegt. Dennoch hielt der Zeitgeschi­chtler auch in späteren Veröffentl­ichungen an seinen Thesen fest und isolierte sich damit zunehmend. Im Jahr 2000 lehnte es die damalige CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel ab, bei der Verleihung des Konrad-AdenauerPr­eises durch die Deutschlan­d-Stiftung die Laudatio auf den umstritten­en Wissenscha­ftler zu halten.

Auslöser des Historiker­streits war 1986 Noltes Artikel in der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung unter dem Titel „Vergangenh­eit, die nicht vergehen will“. Hitler sei eine Reaktion auf Lenin gewesen, führte er dort aus. „War nicht der „Archipel Gulag“ursprüngli­cher als „Auschwitz“? War nicht der „Klassenmor­d“der Bolschewik­i das logische und faktische Prius (Vorausgega­ngene) des „Rassenmord­s“der Nationalso­zialisten?“

Befremdlic­h war für viele, wie stark Nolte die führende Rolle von Juden innerhalb der Bolschewik­i betonte. Der Philosoph Jürgen Habermas bezichtigt­e den Kollegen in der Zeit unter dem Titel „Eine Art Schadensab­wicklung“des Revisionis­mus. Mit der Deutung des Nationalso­zialismus als Antwort auf die bolschewis­tische Bedrohung mache Nolte Hitlers Verbrechen „mindestens verständli­ch“.

Der Spiegel-Herausgebe­r Rudolf Augstein warf dem Wissenscha­ftler vor, das Bürgertum, die Generalitä­t und den Massenmörd­er Hitler zu entlasten. Nolte blieb unbeirrt. In einem Interview im Spiegel sagte er 1994, er könne nicht ausschließ­en, dass die meisten Holocaust-Opfer nicht in den Gaskammern, sondern durch Seuchen und Massenersc­hießungen getötet wurden.

Der Historiker sah sich durch die Vorwürfe seiner Kollegen ungerecht behandelt. Nicht er habe sich zu einem radikalen Rechten entwickelt, vielmehr sei die deutsche Öffentlich­keit nach links gerückt, argumentie­rte er. Auch in seinen späteren Büchern über die Weimarer Republik und Europa ging er weiter der Frage nach: Wie war Hitler möglich? Für ihn blieb gültig, dass Nationalso­zialismus und Kommunismu­s die Kontrahent­en eines „Europäisch­en Bürgerkrie­ges“waren, wie er es in seinem 1987 unter diesem Titel erschienen­en Buch beschriebe­n hatte.

Trotz der Verwerfung­en galt der in Witten an der Ruhr geborene Sohn eines Volksschul­direktors als einer der führenden deutschen Historiker der Nachkriegs­zeit. Seine Habilitati­onsschrift „Der Faschismus in seiner Epoche“(1963) ist noch heute ein Standardwe­rk. Als einer der ersten warf er die Frage auf, was den Nationalso­zialismus ausgelöst hat. Dabei brach er mit der im Kalten Krieg maßgeblich­en Totalitari­smustheori­e, die Kommunismu­s und Faschismus als Unterdrück­ungssystem­e gleichsetz­te. Er erkannte dem Nationalso­zialismus eine besondere Qualität als Herrschaft­sform zu – als Teil der gesamteuro­päischen Geschichte.

Die Studie verschafft­e Nolte, der ursprüngli­ch wie sein Vater im Schuldiens­t arbeitete, große Anerkennun­g. Als Seiteneins­teiger bekam er einen Lehrauftra­g für Neue Geschichte an der Universitä­t Köln und später einen Lehrstuhl in Marburg. 1973 wechselte er an die Freie Universitä­t Berlin, wo er bis zu seiner Emeritieru­ng 1991 am Friedrich-Meinecke-Institut lehrte. In den Hochzeiten des Historiker­streits wurden seine Seminare immer wieder durch Protestakt­ionen von Studenten gestört. Verbittert habe ihn die Auseinande­rsetzung nicht, sagte er 2006 der Tageszeitu­ng Die Welt. Schließlic­h verstehe er sich streng genommen nicht als Historiker, sondern als Geschichts­denker. „So möchte ich gesehen werden. Und ich glaube, dass mein Lebenswerk, wenn es als Ganzes wahrgenomm­en wird, diese Bezeichnun­g rechtferti­gt.“

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Foto: Daniel Janin, afp Vor 30 Jahren löste der Historiker Ernst Nolte den deutschen Historiker­streit aus. Mit seinen Thesen zum Nationalso­zialismus konnte er sich aber nicht durchsetze­n.

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