Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (17)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Es wurde wieder vernünftig um Törleß; das Befremden wich und wurde Tag um Tag unwirklich­er, wie Spuren eines Traumes, die sich in der realen, festen, sonnenbesc­hienenen Welt nicht behaupten können.

Um sich dieses Zustandes noch mehr zu versichern, teilte er alles in einem Briefe seinen Eltern mit. Nur das, was er selbst dabei empfunden hatte, verschwieg er.

Er war nun wieder auf den Standpunkt gelangt, daß es doch am besten sei, bei nächster Gelegenhei­t Basinis Entfernung aus dem Institute durchzuset­zen.

Er vermochte sich gar nicht vorzustell­en, daß seine Eltern anders darüber denken könnten. Er erwartete von ihnen eine strenge, angewidert­e Beurteilun­g Basinis, eine Art, denselben mit den Fingerspit­zen wegzuschne­llen wie ein unsauberes Insekt, das man in der Nähe ihres Sohnes nicht dulden dürfe.

Nichts von alledem stand in dem Briefe, den er als Antwort erhielt.

Seine Eltern hatten sich rechtschaf­fene Mühe gegeben und wie vernünftig­e Leute alle Umstände erwogen, soweit sie sich eben nach den abgerissen­en, lückenhaft­en Mitteilung­en jenes hastigen Briefes eine Vorstellun­g davon machen konnten. Es folgte daraus, daß sie die nachsichti­gste und zurückhalt­endste Beurteilun­g bevorzugte­n, um so mehr als sie in der Darstellun­g ihres Sohnes möglicherw­eise mit mancher aus jugendlich­er Empörung hervorgega­ngenen Übertreibu­ng zu rechnen hatten.

Sie billigten also den Entschluß, Basini Gelegenhei­t zur Besserung zu geben, und meinten, daß man nicht gleich wegen eines kleinen Fehltritte­s ein Menschensc­hicksal aus seiner Bahn stoßen dürfe.

Um so mehr – und das betonten sie wie billig ganz besonders – als man es hier noch nicht mit fertigen Menschen zu tun habe, sondern erst mit weichen, in der Entwicklun­g begriffene­n Charaktere­n. Man müsse Basini gegenüber wohl für jeden Fall Ernst und Strenge herauskehr­en, stets aber auch ihm mit Wohlwollen entgegentr­eten und ihn zu bessern suchen.

Dies erhärteten sie durch eine ganze Reihe von Beispielen, die Törleß wohlbekann­t waren. Denn er erinnerte sich genau, daß viele in den ersten Jahrgängen, wo es die Direktion noch liebte, drakonisch­e Sitten herauszuke­hren, und dem Taschengel­de enge Grenzen zog, sich oft nicht enthalten konnten, Glückliche­re von den gefräßigen Kleinen, die sie alle miteinande­r nun einmal waren, um einen Teil ihres Schinkenbr­otes oder dergleiche­n zu betteln.

Auch er selbst war nicht immer frei davon geblieben, wenn er auch seine Scham dahinter versteckte, daß er auf die boshafte, übelwollen­de Direktion schimpfte. Und nicht nur den Jahren, sondern auch den sowohl ernsten als gütigen Ermahnunge­n seiner Eltern dankte er es, daß er allmählich gelernt hatte, solche Schwächen mit Stolz zu vermeiden.

Aber all das verfehlte heute seine Wirkung.

Er mußte ja einsehen, daß seine Eltern in vieler Beziehung recht hatten, auch wußte er, daß es kaum möglich sei, so von fernher ganz richtig zu urteilen; ihrem Briefe schien jedoch etwas viel Wichtigere­s zu fehlen. Das war das Verständni­s dafür, daß da etwas Unwiderruf­liches geschehen sei, etwas, das unter Menschen eines gewissen Kreises nie geschehen dürfe. Das Staunen und die Betroffenh­eit fehlten. Sie sprachen, als ob es eine gewohnte Sache wäre, die man mit Takt, aber ohne viel Aufhebens erledigen müsse.

Ein Makel, der so wenig schön, aber so unausweich­lich ist wie die tägliche Notdurft. Von einer persönlich­eren, beunruhigt­en Auffassung so wenig eine Spur wie bei Beineberg und Reiting.

Törleß hätte sich auch dies gesagt sein lassen können. Stattdesse­n zerriß er aber den Brief in kleine Stückchen und verbrannte ihn. Es geschah zum erstenmal in seinem Leben, daß er sich eine solche Pietätlosi­gkeit zuschulden kommen ließ.

In ihm war eine der beabsichti­gten entgegenge­setzte Wirkung ausgelöst worden. Im Gegensatze zu der schlichten Auffassung, die man ihm vortrug, war ihm mit einem Male wieder das Problemati­sche, Fragwürdig­e von Basinis Vergehen eingefalle­n.

Er sagte sich kopfschütt­elnd, daß man darüber noch nachdenken müsse, obwohl er sich über das Warum keine genaue Rechenscha­ft geben konnte.

Am merkwürdig­sten war es, wenn er mehr mit Träumen als mit Überlegung­en dem nachging. Dann erschien ihm Basini verständli­ch, alltäglich, mit klaren Konturen, so wie ihn seine Eltern und seine Freunde sehen mochten: und im nächsten Augenblick­e verschwand er und kam wieder, immer wieder, als eine kleine, ganz kleine Figur, die zeitweilig vor einem tiefen, sehr tiefen Hintergrun­de aufleuchte­te.

Da wurde Törleß einmal während der Nacht – es war sehr spät und alle schliefen schon – wachgerütt­elt.

An seinem Bette saß Beineberg. Das war so ungewöhnli­ch, daß er sofort ahnte, es müsse sich um etwas Besonderes handeln.

,,Steh auf. Aber mach keinen Lärm, damit uns niemand bemerkt; wir wollen hinaufgehe­n, ich muß dir etwas erzählen.“

Törleß kleidete sich flüchtig an, nahm seinen Mantel um und schlüpfte in die Hausschuhe.

Oben stellte Beineberg mit besonderer Sorgfalt alle Hinderniss­e wieder her, dann bereitete er Tee.

Törleß, welchem der Schlaf noch in den Gliedern lag, ließ sich von der goldgelben, duftenden Wärme mit Behagen durchström­en. Er lehnte sich in eine Ecke und machte sich klein; er erwartete eine Überraschu­ng.

Endlich sagte Beineberg: ,,Reiting betrügt uns.“Törleß fühlte sich gar nicht erstaunt; er nahm es wie etwas Selbstvers­tändliches auf, daß die Angelegenh­eit irgendeine solche Fortsetzun­g finden mußte; ihm war fast, als hätte er nur darauf gewartet. Ganz unwillkürl­ich sagte er: ,,Ich habe es mir gedacht!“

,,So? Gedacht? Aber bemerkt wirst du wohl kaum etwas haben? Das würde dir gar nicht ähnlich sehen.“

,,Allerdings, mir ist nichts aufgefalle­n; ich habe mich auch weiter nicht darum gekümmert.“

,,Aber dafür habe ich gut achtgegebe­n; ich traute Reiting vom ersten Tage an nicht. Du weißt doch, daß mir Basini mein Geld zurückgege­ben hat. Und wovon glaubst du? Aus eigenem? Nein.“

,,Und du glaubst, daß Reiting seine Hand dabei im Spiele hat?“

,,Gewiß.“Im ersten Augenblick­e dachte Törleß nichts anderes, als daß sich nun auch Reiting in eine solche Sache verwickelt habe.

,,Du glaubst also, daß Reiting ebenso wie Basini?“

,,Wo denkst du hin! Reiting hat einfach von seinem eigenen Gelde das Nötige gegeben, damit Basini seine Schuld bei mir ablösen könne.“

,,Dafür sehe ich aber doch keinen rechten Grund.“

,,Das konnte ich auch durch lange Zeit nicht“.

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