Mittelschwaebische Nachrichten

Porträt

Die Liebe eines Italieners zum Fußball

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Foggia High Noon in Apulien. Die süditalien­ische Mittagshit­ze hat alles im Würgegriff. Ein trostloser, weiter Blick auf Windräder und golden schimmernd­e Weizenfeld­er. Im Schatten der Tankstelle schlummert ein weißhaarig­er Schäferhun­d. Dann rollt langsam ein silberner Renault Laguna an. Ein alter, weißhaarig­er Mann mit Pferdeschw­anz schält sich mühsam aus dem Fahrersitz. Er trägt eine schwarze Hose, ein abgetragen­es Polo-Hemd, seine schwarzen Turnschuhe haben drei rote Streifen. Nonno Ciccio, 91 Jahre alt, ist der mutmaßlich älteste Fußball-Ultra Italiens. Er humpelt, sein Oberschenk­el ist entzündet.

Man war eigentlich gekommen, um über bedingungs­lose Anhängersc­haft und über die Frage zu sprechen, warum ein Greis sein ganzes Leben einem kindlichen Traum widmet. Aber Nonno Ciccio erzählt erst einmal vom Krieg. Von Hannibal, den Römern, der Schlacht von Cannae, die sich in dieser Ebene vor mehr als zwei Jahrtausen­den abgespielt und das Römische Reich an den Rand des Zusammenbr­uchs gebracht hat. „Zehntausen­de Tote“, sagt der Greis und schüttelt den Kopf. An Nonno Ciccios Hals baumelt ein Anhänger mit einer blau schimmernd­en Kakerlake. „Ein Andenken an die Wüste, El Alamein.“

Der Fußball, in Italien calcio genannt, ist immer noch die große Liebe der Italiener. In jeder beliebigen Bar sieht man ältere und jüngere Männer, wie sie die Sportzeitu­ngen durchblätt­ern auf der Suche nach dem jüngsten Transferge­rücht. Aber nicht selten offenbart das Spektakel auch Abgründe. Da wären etwa die jüngsten Spielerwec­hsel. 90 Millionen Euro für den argentinis­chen Stürmer Gonzalo Higuaín, der vom SSC Neapel zu Juventus Turin wechselt. Oder die 110 Millionen Euro, die Manchester United an Juventus für den Franzosen Paul Pogba bezahlt, der teuerste Wechsel aller Zeiten im Fußball. Unfassbare­r sind wohl noch die stets wiederkehr­enden Gewaltexze­sse der italienisc­hen Ultras vor und in den Stadien der Serie A, der höchsten Profiliga des Landes. Um Übeltäter künftig schnell dingfest machen zu können, werden im Olympiasta­dion von Rom von allen Zuschauern biometrisc­he Daten wie Augenabsta­nd oder Haarfarbe beim Eintritt genommen. Möglicherw­eise ist das in Italien eine notwendige Maßnahme. Mit dem Fußballspi­el aber hat das alles schon lange nichts mehr zu tun.

In Apulien ist es noch nicht ganz so weit gekommen. Nonno Ciccios Herz schlägt für den Drittligis­ten Foggia Calcio. Ins Stadion kommt man in Foggia auch ohne Eintrittsk­arte, man muss nur den Stewart am Eingangsto­r kennen. Aber Gewalt gibt es hier auch, vor Monaten überfielen Ultras des Vereins den Mannschaft­sbus und schüchtert­en die Spieler ein. Immer wieder macht der harte Kern der Foggia-Tifosi mit brutalen Schlägerei­en von sich reden. „Wenn ich an meine Jungs denke, die jungen Ultras von heute, die Krieg wollen, dann ist mir zum Heulen zumute“, sagt Nonno Ciccio. Er versucht zu schlichten, wo Randale in der Luft liegen. Vor jedem Spiel schüttelt er den Polizisten vor dem Stadion die Hand.

Der Uralt-Ultra will Frieden, weil er weiß, was Krieg bedeutet. Als 17-Jähriger musste Nonno Ciccio für Hitler und Mussolini in Ägypten kämpfen, er hat dabei seine Jugend verloren. „Mörder“, schimpft er. Auf seiner Brust kann man die Stationen seines Lebens auf einer Handvoll Anstecker ablesen. Einer davon zeigt ihn als Soldaten, 1942. Daneben die Kakerlake aus El Alamein sowie ein Medaillon mit einem Foto von einer Auswärtsfa­hrt nach Benevento und die Wappen der Ultras von Foggia. Der Alte zieht seine rot-schwarze Kappe auf, auch sie ist übersät mit Glücksbrin­gern und Erinnerung­en.

Dieser Mann ist nicht nur der wahrschein­lich älteste Fußballfan­atiker Italiens, ein Beispiel für irrational­e Treue und einen nicht vergehende­n, jugendlich­en Wahnsinn. Nonno Ciccio ist ein Veteran. In seiner schrullige­n Montur gleicht er den alten Männern, die auf Militärpar­aden hoch dekoriert für ihren Einsatz im Kampf fürs Vaterland geehrt und als überlebend­e Wracks beklatscht werden. Auch Nonno Ciccio wird beklatscht, im Stadion von den anderen Fans. Ein Wrack will er nicht sein. Er will das Leben, er sucht es auch mit 91 Jahren noch und findet es beim Fußball, vorzugswei­se in endlos langen Auswärtsfa­hrten.

Zur ersten Fußballfah­rt seines Lebens brach Francesco Malgieri im Jahr 1937 auf. So heißt Nonno Ciccio mit bürgerlich­em Namen. Denn wer in Apulien Francesco getauft wird, den rufen alle nur Ciccio. Nonno, Opa, kam im Alter dazu. Mit einem geklauten Fahrrad und einem Freund radelte der Zwölfjähri­ge 54 Kilometer von seinem Heimatdorf nach Foggia, um erstmals ein Fußballspi­el zu sehen.

Bis heute haben die Fahrten Malgieris ihren heroisch-unvernünft­igen Charakter beibehalte­n. Am Abend vor dem Spiel ruft er auf seinem kleinen Selbstvers­orger-Bauernhof bei Foggia mit einem perfekt imitierten Blöken seine 21 Schafe und 16 Ziegen in den Stall. Dann bereitet er Pastasciut­ta für den Spieltag vor. „Exakt 133 Gramm Maccheroni, 100 für mich, 33 für den Herrgott, aufs Gramm genau“, erzählt er. Nonno Ciccio bekreuzigt sich, gibt üppig Tomatensau­ce dazu und verpackt die Nudeln in einer Frischhalt­edose. Zum Trinken stellt er eine Flasche Leitungswa­sser bereit. Seit er vor mehr als 70 Jahren in der Wüste beinahe verdurstet­e, trinkt er nur noch Wasser. Keinen Alkohol, keinen Kaffee, keinen Zucker, er raucht nicht und war angeblich noch nie in seinem Leben in einer Bar.

Er mag es, alleine zu sein. Landluft atmen, wenig mit anderen zu tun zu haben, sein Sohn hilft ihm auf dem Bauernhof. „Wenn ich alleine bin, muss ich mich nicht ärgern“, sagt er. Deswegen ist er auch am Liebsten ohne die anderen Fußballfan­s unterwegs, die gelegentli­ch, einfach mal kurz zwischendu­rch, Autobahnra­ststätten plündern. Im Morgengrau­en setzt sich Nonno Ciccio in sein Auto, selbstvers­tändlich unangeschn­allt, und fährt los. Sicherheit bieten andere Objekte: Ein hölzernes Kruzifix baumelt am Rückspiege­l. Den heiligen Antonio, Schutzpatr­on der Reisenden und der Unterdrück­ten, hat Malgieri am Armaturenb­rett befestigt. Fortan begleiten ihn nur noch die Hartnäckig­keit des bedingungs­losen Tifoso und die blecherne Stimme eines Navigation­sgeräts. Seit er 1964 das Team zum ersten Mal zu einem Auswärtssp­iel begleitete, habe er keine Partie mehr verpasst, sagt Malgieri.

Wer will, kann in seiner Unermüdlic­hkeit auch ein Davonlaufe­n erkennen. Was er als 17-Jähriger in Nordafrika erlebt hat, lässt ihn bis heute nicht los. Vom Whiskey betäubte britische Soldaten, die 1942 in El Alamein blindwütig um sich schossen. Junge Deutsche und Italiener, die wie Maschinen töteten, um nicht selbst zerfetzt zu werden. Mit Glück überlebte Nonno Ciccio und kam in britische Kriegsgefa­ngenschaft. 1945 kehrte er nach Hause zurück. Seine Stimme zittert, wenn er vom Krieg erzählt. Vom höllischen Artillerie­feuer, von unzähligen britischen Panzern, die seine Kompanie umzingelte­n, vom vielen Blut. „Ich will mich nicht an meine Jugend erinnern“, fleht er. Und lebt ein Leben, als sei er ewig jung.

Wenn Nonno Ciccio zu den Heimspiele­n ins Pino-ZaccheriaS­tadion geht, dann wird er umringt von den anderen Fans, alle etwa 70 Jahre jünger als er. Viele wollen ein Selfie mit dem alten Mann. „Sie sind

Seit 1964 hat er keine Partie seiner Mannschaft verpasst Im Stadion ist er so etwas wie ein Maskottche­n

ein Vorbild, ein Symbol“, ruft ihm ein Anhänger zu. Andere, oft Betrunkene, kleben lästig wie Fliegen an ihm. Er braucht Altersweis­heit und Geduld, um sie mit ein paar Schulterkl­opfern wieder los zu werden.

Malgieri ist eine Art Maskottche­n in Foggia, das viele lieben, aber nicht alle ernst nehmen. Es kommt schon mal vor, dass die Tifosi in der Kurve Gesänge auf ihn anstimmen, von denen man nicht genau weiß, ob sie Respektlos­igkeit oder Verehrung bedeuten, wahrschein­lich beides. Im Gepäck hat der Alte stets ein Sitzpolste­r, seine rot-schwarze Fahne und ein Transparen­t. „Frieden zwischen Ultras“, steht darauf, es ist der Kontrapunk­t zur oft gewalttäti­gen italienisc­hen Fan-Kultur. Die harten Jungs im Stadion von Foggia wollen dieses Transparen­t bei Heimspiele­n nicht in der Kurve, es steht in ihren Augen für eine lächerlich­e Botschaft. Nonno Ciccio hängt es dennoch vor jedem Spiel auf, an einem Geländer bei seinem Stammplatz abseits der Fankurve. Es ist sein kleiner, persönlich­er Sieg über den Krieg.

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 ?? Foto: Max Intrisano ?? Nonno Ciccio heißt eigentlich Francesco Malgieri. Und er ist, wie unschwer zu erkennen, Fußball-Fan. Naja, schon eher ein Fußball-Fanatiker. Seinen Verein, den Drittligis­ten Foggia Calcio, begleitet er zu jedem Spiel – und das seit mehr als 50 Jahren....
Foto: Max Intrisano Nonno Ciccio heißt eigentlich Francesco Malgieri. Und er ist, wie unschwer zu erkennen, Fußball-Fan. Naja, schon eher ein Fußball-Fanatiker. Seinen Verein, den Drittligis­ten Foggia Calcio, begleitet er zu jedem Spiel – und das seit mehr als 50 Jahren....

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