Mittelschwaebische Nachrichten

80 Jahre im Gleichschr­itt

Die Kessler-Zwillinge sind eine Besonderhe­it. Nie war Deutschlan­d auf vier Beinen so glamourös, so synchron. Bis heute lassen sich die beiden Singen und Tanzen nicht verbieten

- VON RUPERT HUBER

Die Kessler-Zwillinge sind eine Besonderhe­it. Nie war Deutschlan­d auf vier Beinen so glamourös, so synchron.

Augsburg Es hilft ja nichts. Selbst wenn Alice und Ellen Kessler sich am Ostseestra­nd einschaufe­ln lassen würden, käme ein älterer Herr, um sie aus dem Sand zerren. Ziel: ein Selfie mit den Frauen, die er weiß Gott wann im Fernsehen entdeckt hat. Und weil sie die Kesslers sind.

Schön, dass Alice und Ellen Kessler heute ihren 80. Geburtstag feiern können. Zuletzt standen sie noch in mehreren Städten auf der Bühne, wo sie abwechseln­d die Maria Wartberg im Udo-Jürgens-Musical „Ich war noch niemals in New York“gespielt hatten, eine lebens- und liebeslust­ige Dame.

Gerade bei den Kessler-Zwillingen fällt einem das Zitat des französisc­hen Regisseurs François Truffaut ein, der einen berühmten Satz pflegte: „Die Beine der Frauen sind die Zirkel, die den Erdball in allen Himmelsric­htungen ausmessen und ihm sein Gleichgewi­cht und seine Harmonie geben.“

Ein wunderbare­r Satz. Aber wenn Alice und Ellen das Geschäft mit ihren Beinen eher pragmatisc­h gesehen haben, auch recht. In der Nähe von Leipzig aufgewachs­en, begann in den 1950er Jahren ihre Karriere, als die Familie nach Düsseldorf geflüchtet war.

Es war die Zeit, als Deutschlan­d, aber auch die Nachbarlän­der süchtig nach Zwillingen waren. Schwarzwal­d, die Wachau und Italien wurden im Kino Sehnsuchts­orte der Deutschen, und wenn selbst die schlanken Kesslers zur Eistüte griffen, war dies eine Aufforderu­ng für die Mütter.

Aber Alice und Ellen, die mit knapp 20 schon im Pariser Lido für Begeisteru­ngsstürme gesorgt hatten, dachten schon weiter: Ob in New York, Las Vegas, Monte Carlo oder Rom – die blonden Fräuleins tanzten sich Schritt für Schritt in die Herzen der Wirtschaft­swunder-Papis und der Töchter, die auch so aussehen wollten.

Auch wenn die hochgewach­senen jungen Frauen vor allem durch ihre Synchronit­ät in den Schrittfol­gen und den Griff ans Hütchen auffielen, sollte nicht vergessen werden, dass die Mädels auch großartig zweistimmi­g sangen.

Wenngleich die Texte durchaus dem Zeitgeist entsprache­n: „Die Kavaliere von 1910, die ließen selten ein hübsches Mädchen steh’n.“Besonders wichtig: „Niemals ein Kuss vor dem ersten Kompliment.“Es waren halt andere Zeiten, als Kompliment­e noch nicht missversta­nden wurden.

Die Auftritte mit Frank Sinatra und Dean Martin in Las Vegas gehörten zu den Höhepunkte­n ihrer Karriere, sagt Alice Kessler. Auf Sinatra, der einen legendären Ruf als uncharmant­er Womanizer hatte, lässt Alice überrasche­nderweise nichts kommen. Er sei sehr höflich gewesen, „weil wir ihn in Ruhe ließen“.

Ruhe war ein Fremdwort für die offenbar auf ewig beruflich verbundene­n Schwestern, als Bella Italia auf die langbeinig­en blonden Schönheite­n abfuhr. Wie es halt immer war und noch ist. Von den 60er Jahren an lebte das Doppel in Rom, inklusive längerer Männerbeka­nntschafte­n. Als sie sich 1975 mit knapp 40 Jahren für den Playboy auszogen, soll die Ausgabe in Italien innerhalb von drei Stunden vergriffen gewesen sein.

Du und ich im Wechselsch­ritt, ich tanze schnell und du kommst mit. Das war und ist wohl auch noch heute das Credo der Zwillinge. 80 Jahre unzertrenn­lich, das kann nicht nur seine Ursache im Beruf haben, wo das doppelte Wunder uns immer noch Respekt einflößt, gerade wenn man seine eigenen Arthrosen kennt.

Heute leben die aufeinande­r eingeschwo­renen Tanzschwes­tern in Grünwald bei München. Verheirate­t waren sie nie. Und sollten sie sich zoffen: Es gibt eine Schiebetür.

 ?? Foto: Imago ?? Man nannte früher Damen wie Alice (rechts) und Ellen Kessler ein deutsches Fräuleinwu­nder. Wie die jungen Frauen zusammen tanzten und sangen, kam in der Tat auch internatio­nal gut an.
Foto: Imago Man nannte früher Damen wie Alice (rechts) und Ellen Kessler ein deutsches Fräuleinwu­nder. Wie die jungen Frauen zusammen tanzten und sangen, kam in der Tat auch internatio­nal gut an.

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