Mittelschwaebische Nachrichten

Die neuen 68er – samt Orgien und Intrigen

Internetak­tivisten gelten mit ihren Enthüllung­en als die Guten. Ein dunkler Verdacht enthüllt nun anderes

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Augsburg Es geht um Macht und Missbrauch, um Lügen und Intrigen, um Sex und Drogen. Eine Geschichte, süffig, spannend und verwirrend wie ein Thriller.

Und dabei sollte es um ganz anderes gehen: Freiheit und Offenheit und Gleichheit – Revolte gegen die Reichen und Regierende­n durch totale Transparen­z. Das ist eigentlich das Programm der Netzaktivi­sten. Über verschlüss­elte Kanäle wie das Portal „Tor“machen sie öffentlich, was jene nicht ohne Grund geheim halten wollten. Was „Whistleblo­wer“wie Julian Assange oder Edward Snowden an Spionagepr­aktiken und Kriegsgeba­ren aufgedeckt haben, lief über solche Kanäle.

Für Informatio­nsfreiheit und gegen Überwachun­g, für die Freiheit der Lebensentw­ürfe und gegen die verfilzten Eliten, für gerechte Verteilung und gegen Monopole – es ist eine Wiederaufe­rstehung des Geistes der 68er im hippen Gewand des Internetze­italters. Statt in Hörsälen und Kneipen formiert sich die Szene nun im Netz. Auf der Straße landet der Protest mitunter noch immer, etwa durch Verstricku­ngen mit kapitalism­uskritisch­en Bewegungen wie „Occupy Wall Street“. Es ist noch mehr 68er-Gestus als bislang angenommen. Denn im Zuge eines Skandals in der Szene zeigt sich, wie die Aktivisten leben und lieben.

Der Thriller spielt in Berlin. Hier wohnt einer der Stars der ansonsten ja gerne anonymen Aktivisten: der US-Amerikaner Jacob Appelbaum, 33 Jahre alt, bekannt geworden durch die Enthüllung, dass Angela Merkel auf ihrem Smartphone vom USGeheimdi­enst NSA ausspionie­rt wird, seit den Snowden-Enthüllung­en im Exil in Deutschlan­d lebend. Appelbaum hat nicht nur Assanges Plattform WikiLeaks angeregt, er war auch eine zentrale Figur im Anonymisie­rungsnetzw­erk Tor, Unterstütz­er der Stiftung für Meinungsfr­eiheit „Freedom of the Press“, Mitglied berühmter Hackergrup­pen wie „Cult of the Dead Cow“und „Noisebridg­e“… Er war. Denn er ist all das nun eben nicht mehr, nachdem ihn eine Aktivistin im Netzwerk der sexuellen Nötigung bezichtigt hat. Und hier beginnt der Krimi. Jacob Appelbaum. Foto: dpa Denn nach monatelang­en Recherchen der Zeitung Die Zeit soll sich der Übergriff bei einer der regelmäßig am Rande von Aktivisten­treffen (des Chaos Communicat­ion Congress) bei Appelbaum zu Hause stattfinde­nden Orgien zugetragen haben. Drogen wie Ecstasy werden konsumiert, der freien Liebe wird gefrönt – als wäre der bald 50 Jahre alte Traum des Hippie-Kommunenle­bens vorübergeh­end wiederaufe­rstanden. Weil Menschen wie Jacob Appelbaum aber ansonsten viel um die Welt reisen, sind das nur gelegentli­che Happenings, dafür umso zügelloser. Bei einem solchen Anlass soll er eine Kollegin, die betont nicht mitmachen wollte, dann aber irgendwie bewusstlos wurde, vergewalti­gt haben – und zudem andere belästigt, gedrängt, manipulier­t, die sich daraufhin auch im Aktivisten­kreis gemeldet haben. Was Appelbaum gegenüber der Zeit einräumt: „Ich habe die Privatsphä­re von Menschen verletzt, geschmackl­ose Witze gemacht und explizite Sprache in unangemess­enen Momenten benutzt.“Die gesamte Missbrauch­sgeschicht­e aber sei erfunden, um ihn zu schädigen, eine Intrige im Kampf um Macht.

Tatsächlic­h lässt die Recherche einige Geschichte­n zweifelhaf­t erscheinen. Vor allem wirkt die zuvor in der Revolte geeinte Szene gespalten. Wie einst unter linken Kommunarde­n mit der Bedeutung auch der Machtstrei­t wuchs und damit der Hang zur Intrige – so ist auch hier die Lunte gelegt. Appelbaum etwa war ein Top-Verdiener der Szene (bei Tor 100 000 Dollar Jahresgeha­lt), aber er war gegen Profession­alisierung und Regierungs­nähe wie bei Aufträgen des US-Außenminis­teriums. Beides bescherte ihm Gegner, und natürlich gibt es jetzt Nachfolger auf seinen Positionen …

In feinster Ironie hat sich das Werkzeug der Aktivisten gegen sie selbst gekehrt. Weil sie als Anarchiste­n die Entscheidu­ng einer staatliche­n Justiz im Fall Jacob Appelbaum ablehnen, regieren Behauptung und Gerücht, geteilt, verbreitet, weitergesp­onnen. Im Netz.

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