Mittelschwaebische Nachrichten
Die neuen 68er – samt Orgien und Intrigen
Internetaktivisten gelten mit ihren Enthüllungen als die Guten. Ein dunkler Verdacht enthüllt nun anderes
Augsburg Es geht um Macht und Missbrauch, um Lügen und Intrigen, um Sex und Drogen. Eine Geschichte, süffig, spannend und verwirrend wie ein Thriller.
Und dabei sollte es um ganz anderes gehen: Freiheit und Offenheit und Gleichheit – Revolte gegen die Reichen und Regierenden durch totale Transparenz. Das ist eigentlich das Programm der Netzaktivisten. Über verschlüsselte Kanäle wie das Portal „Tor“machen sie öffentlich, was jene nicht ohne Grund geheim halten wollten. Was „Whistleblower“wie Julian Assange oder Edward Snowden an Spionagepraktiken und Kriegsgebaren aufgedeckt haben, lief über solche Kanäle.
Für Informationsfreiheit und gegen Überwachung, für die Freiheit der Lebensentwürfe und gegen die verfilzten Eliten, für gerechte Verteilung und gegen Monopole – es ist eine Wiederauferstehung des Geistes der 68er im hippen Gewand des Internetzeitalters. Statt in Hörsälen und Kneipen formiert sich die Szene nun im Netz. Auf der Straße landet der Protest mitunter noch immer, etwa durch Verstrickungen mit kapitalismuskritischen Bewegungen wie „Occupy Wall Street“. Es ist noch mehr 68er-Gestus als bislang angenommen. Denn im Zuge eines Skandals in der Szene zeigt sich, wie die Aktivisten leben und lieben.
Der Thriller spielt in Berlin. Hier wohnt einer der Stars der ansonsten ja gerne anonymen Aktivisten: der US-Amerikaner Jacob Appelbaum, 33 Jahre alt, bekannt geworden durch die Enthüllung, dass Angela Merkel auf ihrem Smartphone vom USGeheimdienst NSA ausspioniert wird, seit den Snowden-Enthüllungen im Exil in Deutschland lebend. Appelbaum hat nicht nur Assanges Plattform WikiLeaks angeregt, er war auch eine zentrale Figur im Anonymisierungsnetzwerk Tor, Unterstützer der Stiftung für Meinungsfreiheit „Freedom of the Press“, Mitglied berühmter Hackergruppen wie „Cult of the Dead Cow“und „Noisebridge“… Er war. Denn er ist all das nun eben nicht mehr, nachdem ihn eine Aktivistin im Netzwerk der sexuellen Nötigung bezichtigt hat. Und hier beginnt der Krimi. Jacob Appelbaum. Foto: dpa Denn nach monatelangen Recherchen der Zeitung Die Zeit soll sich der Übergriff bei einer der regelmäßig am Rande von Aktivistentreffen (des Chaos Communication Congress) bei Appelbaum zu Hause stattfindenden Orgien zugetragen haben. Drogen wie Ecstasy werden konsumiert, der freien Liebe wird gefrönt – als wäre der bald 50 Jahre alte Traum des Hippie-Kommunenlebens vorübergehend wiederauferstanden. Weil Menschen wie Jacob Appelbaum aber ansonsten viel um die Welt reisen, sind das nur gelegentliche Happenings, dafür umso zügelloser. Bei einem solchen Anlass soll er eine Kollegin, die betont nicht mitmachen wollte, dann aber irgendwie bewusstlos wurde, vergewaltigt haben – und zudem andere belästigt, gedrängt, manipuliert, die sich daraufhin auch im Aktivistenkreis gemeldet haben. Was Appelbaum gegenüber der Zeit einräumt: „Ich habe die Privatsphäre von Menschen verletzt, geschmacklose Witze gemacht und explizite Sprache in unangemessenen Momenten benutzt.“Die gesamte Missbrauchsgeschichte aber sei erfunden, um ihn zu schädigen, eine Intrige im Kampf um Macht.
Tatsächlich lässt die Recherche einige Geschichten zweifelhaft erscheinen. Vor allem wirkt die zuvor in der Revolte geeinte Szene gespalten. Wie einst unter linken Kommunarden mit der Bedeutung auch der Machtstreit wuchs und damit der Hang zur Intrige – so ist auch hier die Lunte gelegt. Appelbaum etwa war ein Top-Verdiener der Szene (bei Tor 100 000 Dollar Jahresgehalt), aber er war gegen Professionalisierung und Regierungsnähe wie bei Aufträgen des US-Außenministeriums. Beides bescherte ihm Gegner, und natürlich gibt es jetzt Nachfolger auf seinen Positionen …
In feinster Ironie hat sich das Werkzeug der Aktivisten gegen sie selbst gekehrt. Weil sie als Anarchisten die Entscheidung einer staatlichen Justiz im Fall Jacob Appelbaum ablehnen, regieren Behauptung und Gerücht, geteilt, verbreitet, weitergesponnen. Im Netz.