Mittelschwaebische Nachrichten

An Merkel kommt er nicht vorbei

Analyse Alles spricht dafür, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel zur nächsten Bundestags­wahl als Kanzlerkan­didat antritt. Aber um an die Macht zu gelangen, fehlt die wichtigste Voraussetz­ung

- VON MARTIN FERBER

Berlin Darf er das überhaupt? Und kann ein Mann, der nicht zum ersten Mal seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat, emotional und unbeherrsc­ht reagiert und für seine Stimmungss­chwankunge­n bekannt ist, überhaupt Bundeskanz­ler der Bundesrepu­blik Deutschlan­d werden?

Als vor wenigen Tagen die Bilder die Runde machten, auf denen zu sehen war, wie Sigmar Gabriel Pöblern der rechten Szene den ausgetreck­ten Mittelfing­er zeigte, drehte sich sofort alles um diese Fragen. Hat der Vizekanzle­r, Wirtschaft­sminister und SPD-Chef überhaupt das Format für das Amt des Regierungs­chefs? Oder steht er sich selber im Wege?

Gabriel, der seit der schweren Wahlnieder­lage im Jahr 2009 an der Spitze der SPD steht und damit der am längsten amtierende Parteichef seit dem Rücktritt des verklärten Übervaters Willy Brandt ist, ist Realist genug, um seine Stärken wie seine Schwächen zu kennen. Er weiß um seine schlechten Werte bei Meinungsum­fragen und die negativen Beurteilun­gen, die über ihn im Umlauf sind. Dass er sprunghaft und unberechen­bar, laut und polternd, eigensinni­g und rechthaber­isch ist, dass er aber auch wie kein anderer Spitzenpol­itiker Stimmungen erkennt und aufgreift, Themen setzt und gerne deutliche Worte wählt.

So spricht trotz aller Zweifel an seiner Person 13 Monate vor der Bundestags­wahl im September kommenden Jahres alles dafür, dass Sigmar Gabriel als Kanzlerkan­didat der SPD antritt und Amtsinhabe­rin Angela Merkel herausford­ert. Dieses Mal kann er sich nicht mehr wie 2013, als er Ex-Finanzmini­ster Peer Steinbrück vorschob, vor der Verantwort­ung drücken. Dieses Mal muss er selber die Rolle des Zugpferdes übernehmen. Und das obwohl es auch in den eigenen Reihen Vorbehalte gegen ihn gibt. Vor allem den Jusos und dem linken Flügel ist der Realpoliti­ker, als Minister in die Kabinettsd­isziplin eingebunde­n, nicht links genug.

Doch ein wirklich ernst zu nehmender Rivale, der ihm die Kandi- datur streitbar machen könnte, ist nicht in Sicht. Wer wie die Ministerin­nen Andrea Nahles oder Manuela Schwesig seine politische Zukunft noch vor sich hat, will sich nicht zu früh aus der Deckung wagen und lieber das Ende der Ära Merkel abwarten.

Denn Sigmar Gabriel steht vor dem selben Dilemma wie seine beiden erfolglose­n Vorgänger FrankWalte­r Steinmeier 2009 und Peer Steinbrück 2013: Der SPD fehlt das Wichtigste, nämlich eine Machtoptio­n. Wer SPD wählt, bekommt ein viertes Mal Angela Merkel als Kanzlerin. Als Juniorpart­ner der Union in der Großen Koalition ist es den Sozialdemo­kraten nicht gelungen, aus dem Schatten der Merkel-Partei zu treten. Obwohl sie im Regierungs­bündnis oft den Ton vorgaben und ihre Kernforder­ungen von Mindestloh­n über Mietpreisb­remse bis Rente mit 63 durchsetzt­en, blieben sie regungslos im 25-ProzentTie­f.

Für Rot-Grün reicht es auch im nächsten Jahr nicht. Bliebe nur RotRot-Grün.

Nahles und Schwesig warten lieber ab Rot-Rot-Grün ist keine Frage der Arithmetik

Doch eine arithmetis­che Mehrheit ist noch lange keine politische Mehrheit. Was in einzelnen Ländern möglich ist, wahrschein­lich auch in der Hauptstadt Berlin nach den Wahlen im September, weil die frühere PDS dort längst auf dem Boden der politische­n Realitäten angekommen ist, das ist auf Bundeseben­e angesichts der inneren Zerrissenh­eit und der programmat­ischen Radikalitä­t der Linken schlicht undenkbar. Eine Außenminis­terin Sahra Wagenknech­t oder ein Finanzmini­ster Dietmar Bartsch wären selbst für Sozialdemo­kraten und Grüne ein Albtraum.

Sigmar Gabriel wird kandidiere­n, weil er kandidiere­n muss. Aber für ihn dürfte es schon ein Erfolg sein, wenn er es schafft, die SPD an den Fleischtöp­fen der Macht zu halten. Denn im Gegensatz zu ihm könnte Angela Merkel nach der nächsten Bundestags­wahl – wie bereits 2013 – in der komfortabl­en Lage sein, sich den Koalitions­partner aussuchen zu können.

Von einem solchen Luxus kann die SPD auf Bundeseben­e auf absehbare Zeit nur träumen.

 ?? Foto: Tobias Schwarz, afp ?? Kanzlerin Angela Merkel steht mit breitem Lachen vor einem ernsten SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er kommt an ihr nicht vorbei.
Foto: Tobias Schwarz, afp Kanzlerin Angela Merkel steht mit breitem Lachen vor einem ernsten SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er kommt an ihr nicht vorbei.

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