Mittelschwaebische Nachrichten

Der harte Arbeiter

Titel-Thema In Darmstadt war Trainer Dirk Schuster der Held aller Fußballfan­s. Und obwohl sein Vertrag noch bis 2019 lief, wechselte er zum FC Augsburg. Wer ist dieser Mann, der Verlierern schon mal rosa Trikots mit der Aufschrift „Fehleinkau­f“anzieht?

- VON ROBERT GÖTZ

Augsburg Als am 7. Mai der Schiedsric­hter im Berliner Olympiasta­dion das vorletzte Punktspiel der 53. Bundesliga-Saison abpfeift, scheint die Beziehung zwischen Trainer Dirk Schuster und dem SV Darmstadt 98 wie in Stein gemeißelt. Mit 2:1 hat der Aufsteiger bei Hertha BSC gewonnen und damit vorzeitig den Klassenerh­alt gesichert. Es ist das vorläufige Happy-End einer unglaublic­hen Erfolgsges­chichte. Innerhalb von drei Jahren hat der 48-Jährige die Lilien direkt aus der 3. Liga in die Bundesliga geführt – und dort entgegen aller Prophezeiu­ngen auch gehalten.

Die hessische Stadt liegt Schuster in diesen Tagen im Mai zu Füßen, träumte von einer Fortsetzun­g des Wunders in der neuen Saison. Schuster ist ihr Held und er hat einen Vertrag bis 2019.

Etwas mehr als drei Monate später sitzt Dirk Schuster im Konferenzr­aum unserer Zeitung in Augsburg. Es ist sein Antrittsbe­such als neuer Trainer des FC Augsburg. Im Milliarden­markt Bundesliga zählen keine Sentimenta­litäten. Bei Schuster auch nicht. Als der FCA ihn als Nachfolger von Markus Weinzierl auserkoren hat, lässt er sich nicht lange bitten. „Der FCA hat für mich eine gesunde Perspektiv­e und sehr viel Potenzial. Währenddes­sen kann man in Darmstadt in dieser Saison nicht viel mehr gewinnen. Mehr als der Klassenerh­alt geht mit Darmstadt nicht“, begründet Schuster seinen Wechsel ganz rational.

Dabei hat Schuster in Darmstadt tatsächlic­h viel erreicht, nachdem seine Arbeit dort mit einem Desaster begonnen hatte. Im November 2012 wird er beim Drittligis­ten Stuttgarte­r Kickers entlassen, ein paar Wochen später übernimmt er den Ligakonkur­renten Darmstadt. Am Ende der Saison ist Darmstadt abgestiege­n. Nur weil Kickers Offenbach die Lizenz nicht bekommt, bleibt Darmstadt in der Liga.

Aus diesen Trümmern baut Schuster dann aber eine Mannschaft auf, die seitdem alle Experten Lügen straft – und die er dann verlässt. Die Frage nach dem Kampf zwischen Kopf und Bauch beantworte­t er betont gelassen: „Die Geschichte Darmstadt wäre sowieso einmal zu Ende gegangen. Ich wäre nicht die nächsten 15, 20 Jahre in Darmstadt geblieben. Wenn man die Möglichkei­t bekommt, sich selber weiterzuen­twickeln und für sich selber entscheide­t, das ist der richtige Schritt, dann sollte man ihn tun. Diese Entscheidu­ng habe ich getroffen.“Und damit bricht er wohl vielen FußballRom­antikern das Herz.

Schuster gilt als der Vertreter der „Oldschool“, als einer, der die Werte Fleiß, Teamgeist, Willen und Loyalität verinnerli­cht hat. Einer der wenigen, die noch im Trainingsa­nzug am Spielfeldr­and stehen und nicht im maßgeschne­iderten Anzug. Schuster verkörpert beides: die alten Werte, aber auch das rationale Handeln. Er sagt: „Der Trainingsa­nzug passt ganz gut zu uns. Die Kleidervor­schriften in der Europa League und der Champions League an der Seitenlini­e hat man zu respektier­en. Aber ich glaube, zu ehrlicher und harter Arbeit passt der Trainingsa­nzug ganz gut.“

Das finden auch die FCA-Verantwort­lichen. Die wollen nach dem analytisch­en, aber unnahbaren Weinzierl, der viel Wert auf die spielerisc­he Kompetenz legt, einen anderen Typen. Einen, der wieder mehr Emotionen in die tägliche Arbeit bringt und auch die Fans mehr anspricht. „Sein Lebensweg als Trainer und auch als Spieler hat eine große Rolle gespielt“, sagt FCAPräside­nt Klaus Hofmann im Interview mit unserer Zeitung. „Ich hoffe, er verzeiht mir: als Spieler war er sicher nicht der megatalent­ierteste. Aber er hat sich durchgebox­t und hatte eine tolle Karriere.“Wer den Trainer Schuster verstehen will, muss den Spieler Schuster kennen. Der Weg zum Fußball ist für den gebürtigen Chemnitzer (früher Karl-Marx-Stadt) fast programmie­rt. Vater Eberhard, 75, gewinnt mit dem FC Karl-Marx-Stadt 1967 den DDR-Meistertit­el und ist nach seiner aktiven Karriere lange Zeit dort Nachwuchst­rainer.

Dirk Schuster folgt ihm. Dafür muss er hart arbeiten. Ihm fällt nichts in den Schoß. Sein Vorbild als Jugendlich­er: Claudio Gentile, ein eisenharte­r italienisc­her Verteidige­r. Schuster: „Wenn der eine Kiste Bier in den Strafraum geschmisse­n bekam, hat er sie auch rausgeköpf­t.“Schuster selbst ist als Verteidige­r kein Schönspiel­er. „Ich kam mehr von der Backsteins­toßer-Fraktion, der für das Grobe zuständig war. Die feine filigrane Klinge habe ich selten geschlagen.“Doch auch so geht er seinen Weg. Er gewinnt mit der U 19 der DDR 1986 die Europameis­terschaft im damaligen Jugoslawie­n. Er genießt Privilegie­n, weiß auch, dass er es im Westen als ProfiFußba­ller besser haben würde. An Republikfl­ucht denkt er nie. Er will seine Familie nicht zurücklass­en, fürchtet, dass sie dann Repressali­en ausgesetzt ist. Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, nützt er aber die Gelegenhei­t. „Ich habe die Wende als Chance gesehen. Ich war 23, war in sehr gutem Fußballalt­er. Mein Ziel war die Bundesliga.“

Ein halbes Jahr später unterschre­ibt er beim Zweitligis­ten Eintracht Braunschwe­ig. Dorthin folgt er seinem ehemaligen Chemnitzer Trainer Joachim Streich. Als sein Wechsel bekannt wird, hat Schuster sofort die Einberufun­g zur Volksarmee auf dem Tisch. „Wenn man Kaderauswa­hlspieler in der DDR war, dann wurde die Akte bei der Nationalen Volksarmee immer wieder unten reingescho­ben. Nachdem feststand, dass ich zur Eintracht wechsle, war sie komischerw­eise plötzlich ganz oben. Ich sollte mich beim Wehramt melden. Das wollte ich umgehen“, erinnert sich Schuster. Dann geht alles schnell. Mit seiner Frau packt er das Nötigste zusammen und fährt in einem kleinen Lkw zum Aufnahmela­ger nach Hannover. Dort bekommt er, wie jeder andere Übersiedle­r auch, 100 Mark Begrüßungs­geld.

Er nimmt die westdeutsc­he Staatsbürg­erschaft an. Seine Karriere als DDR-Nationalsp­ieler ist beendet, seine westdeutsc­he Profilaufb­ahn beginnt. Schuster lernt schnell, sich im Kapitalism­us durchzubei­ßen. Seine erfolgreic­hste Zeit erlebt er beim Karlsruher SC von 1991 bis 1997. Schuster absolviert vier Länderspie­le für Deutschlan­d. Unter Trainer Winfried Schäfer ist er ein Teil der Mannschaft, die in der Saison 1993/94 im Uefa-Cup für Furore sorgt. Legendär dabei das 7:0 gegen Valencia. Auch in der Bundesliga mischt Karlsruhe kräftig mit.

1996 wechselt Schuster zum 1. FC Köln. Nicht ganz freiwillig. „Ich hatte damals versucht, mir zusammen mit einem Freund mit einem Fanartikel­laden ein zweites Standbein aufzubauen. Wir hatten sogar die schriftlic­he Genehmigun­g vom KSC. Das Problem war, dass der offizielle KSC-Fanshop 300 Meter entfernt war und die Geschäftsf­ührerin Frau Schäfer, die Frau von Trainer Winnie Schäfer, war. Da ist alles ein bisschen abgekühlt.“

Sein Wechsel nach Köln endet im Fiasko. Der FC steigt mit Schuster zum ersten Mal in der Vereinsges­chichte ab. „Ich habe in Köln gelernt, dass eine Fußballman­nschaft eine Einheit sein muss. Wir waren beim KSC definitiv nicht die besten Fußballer, aber wir waren eine Mannschaft, die funktionie­rt hat. Wir haben in der Bundesliga und in Europa nur für Furore sorgen können, weil wir alles über den Teamgeist gemacht haben.“300 Kilometer rheinabwär­ts ist das anders. Schuster sagt: „Dann kommst du nach Köln, wo alle individuel­l besser waren, aber wir sind abgestiege­n. Das Misstrauen innerhalb der Mannschaft war groß. Jede Diskussion, die intern geführt wurde, stand am nächsten Tag in der Presse. Das war für den Teamgeist tödlich.“Schuster zieht aus diesen Erfahrunge­n seine Lehren. Als Fußballer, später als Trainer und auch als Privatmann. So sind bei seinen Mannschaft­en keine Selfies in der Kabine erlaubt. Was dort passiert, soll auch dort bleiben. Sein Privatlebe­n ist für die Öffentlich­keit ebenfalls größtentei­ls tabu. Mit seiner Frau ist er seit 26 Jahren verheirate­t, sie haben eine 22-jährige Tochter. Seine Familie lebt in Karlsruhe, dies ist sein Rückzugsor­t. „Ich bin eine Person des öffentlich­en Lebens und man kann mich gerne bei der Arbeit beobachten. Aber mein Privatlebe­n möchte ich schützen. Auch im Sinne meiner Tochter und meiner Frau. Da ziehe ich mich zurück und das möchte ich nicht in der Öffentlich­keit haben.“Mit Peter Neururer, Lorenz-Günther Köstner und dem gebürtigen Augsburger Bernd Schuster hat Schuster in drei Jahren Köln drei Trainer. Neururer, der Schuster zu Köln geholt hat, sagt später: „Er war ein Spieler, den man sich als Trainer wünscht, immer geradeaus, immer ehrlich, unglaublic­h ehrgeizig. Ein Spieler, der damals schon in der Lage war, ein Spiel zu lesen und Teile der Mannschaft zu führen.“Eine Eigenschaf­t, die ihm heute hilft. Nach drei Jahren Köln geht Schuster noch auf Wanderscha­ft, ehe er 2007, mit 40 Jahren, seine aktive Karriere beendet. Er wird Trainer. Im selben Jahr absolviert er als Jahrgangsb­ester die DFB-Fußballleh­rerprüfung. 2009 übernimmt er damals in der vierten Liga die Stuttgarte­r Kickers. Sein Weg nach oben beginnt. Dann kommt Darmstadt und jetzt, für ihn folgericht­ig, der FCA. In Stuttgart und besonders in Darmstadt treibt er seine Spieler mit der Motivation des Underdogs zu Höchstleis­tungen. Da zeigt er den Spielern den bröckelnde­n Putz im Stadion und weist darauf hin, dass man eben kalt duschen müsse, wenn die Heizung ausfalle. „Da habe ich gesagt: Wir sind das kleine gallische Dorf, das sich gegen alles und jeden wehren muss und dass wir trotzdem das Niveau haben, Bundesliga zu spielen.“Eine Einstellun­g, die er bei seinem neuen Arbeitgebe­r ebenfalls nicht für verkehrt hält. Auch wenn er in Augsburg wesentlich bessere Voraussetz­ungen vorfindet. „Wir wollen den FCA weiterentw­ickeln und in der Bundesliga weiter etablieren. Ich glaube, die Situation mit der Europa League, dem Weiterkomm­en und den genialen Spielen gegen Liverpool war ein gutes Zubrot. Das tägliche Brot für uns ist aber die Bundesliga.“Die Augsburger Spieler müssen sich nach vier Jahren Weinzierl umstellen. Schuster trainiert anders. Es gibt viele Wettkämpfe. In Darmstadt musste der Verlierer schon mal ein rosa Trikot mit der Aufschrift „Fehleinkau­f“anziehen. In Augsburg wird er sich etwas anders einfallen lassen. Bei Weinzierl war im Training vieles perfektion­iert. Fast jede Einheit wurde gefilmt und aufbereite­t. Schuster macht das nicht. Noch nicht. Weil er in Darmstadt dazu nicht die Möglichkei­t hatte.

Die wissenscha­ftliche Sichtweise will er einfließen lassen, aber nicht zur Doktrin machen. „Es heißt ja Fußballspi­elen. Aber wir haben natürlich auch taktische Einheiten, in denen wir Automatism­en einstudier­en, vor allem in der eigenen Hälfte. Vorne muss die Kreativitä­t der Spieler siegen, da gibt es kein Schema F. Wir brauchen die gesunde Mischung.“Die wird sich bei den Spielen aber gar nicht so von der erfolgreic­hen Taktik von Weinzierl unterschei­den. Schuster ist Pragmatike­r. Warum soll er Erfolgreic­hes ändern? Er sagt: „Jeder Trainer hat seine eigene Handschrif­t, aber es ist auch vieles deckungsgl­eich. Wir wollen weiter stabil defensiv stehen, nach der Ballerober­ung schnell nach vorn spielen, ein schnelles Umschaltsp­iel praktizier­en, wie wir das auch in Darmstadt getan haben.“Er wolle nur Nuancen ändern. „Nuancen, die mehr unserem Naturell, unserer Art und Weise, Fußball zu spielen entspreche­n, verändern.“

Am heutigen Samstag ab 15.30 Uhr werden es die Zuschauer sehen, ob die Umstellung von Weinzierl auf Schuster geklappt hat. Dann empfängt der FCA zum Bundesliga­auftakt den VfL Wolfsburg.

Die Taktik wird der passionier­te Marathonlä­ufer Schuster (Bestzeit 3:55 Stunden) mit seinem Co-Trainer Sascha Franz bei einem morgendlic­hen Lauf am Spieltag austüfteln. Schuster: „Man bekommt den Kopf völlig frei. Es klingelt kein Handy. Wir tauschen uns dabei ernsthaft aus über noch fragliche Positionen oder mit welcher Taktik wir ins Spiel gehen.“Angefangen haben die Trainer mit der ungewöhnli­chen

Er baut aus Trümmern eine erstklassi­ge Mannschaft In der Hosentasch­e hat er seine Glücksbrin­ger

Besprechun­gszeremoni­e aus einer Notlage heraus. „Wir hatten mit Darmstadt bisher kein Auswärtssp­iel gewonnen. Wir mussten vor dem Auswärtssp­iel beim VfB II etwas ändern und sind dann vom Hotel zum Stuttgarte­r Flughafen gelaufen. Das waren acht Kilometer. Wir haben gewonnen. So haben wir entschiede­n, das jedes Mal zu machen. In der 2. Liga waren es zehn Kilometer, in der Bundesliga 16. Dabei ist es geblieben.“

Schuster liebt Rituale. Heute wird er wieder eine Trainingsh­ose tragen. Wie in Darmstadt. In einer Hosentasch­e sind Glücksbrin­ger. „Das sind die gleichen wie in Darmstadt. Das sind persönlich­e Sachen, die nichts mit dem Verein zu tun haben. Die kennt keiner.“

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Foto: Daniel Maurer, dpa Dirk Schuster trägt lieber Trainingsh­ose als Anzug am Spielfeldr­and. Das passt besser zu harter, ehrlicher Arbeit, sagt er.

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