Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Schicksal aus dem Todeslaste­r

Vor einem Jahr entdeckt die Polizei in Österreich einen Kühllaster mit 71 toten Flüchtling­en. Wenige Tage später ändert Kanzlerin Merkel ihre Asylpoliti­k. Unter den Opfern ist auch ein Lehrer aus Damaskus. Seine Witwe und die Kinder riskieren ihr Leben, u

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien Nahed ist eine schöne Frau. Klein und zierlich, mit ausdrucksv­ollen dunklen Augen und klar definierte­n Brauen. Die 31-Jährige strahlt Kraft und Selbstdisz­iplin aus. Sie jammert nicht, obwohl sie hier in Wiener Neustadt, der 44000 Einwohner großen Stadt eine halbe Autostunde südlich von Wien, niemanden kennt und kein Deutsch spricht. Das ist ihr nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie jetzt sicher ist, dass ihr Mann tot ist. Dass sie jetzt sein Grab kennt und hier um ihn trauern kann. Genau ein Jahr ist es her, dass sie bei ihrer Mutter im syrischen Damaskus einen Fernsehber­icht über 71 erstickte Menschen in einem Kühllaster in Österreich gesehen hat. „Ich habe sofort gespürt, dass mein Mann unter den Toten ist“, sagt sie.

Bestätigt wurde sein Tod erst Monate später. Deshalb ging sie das Risiko ein und machte sich mit ihren Kindern, dem elfjährige­n Zaid und der sechsjähri­gen Tala Ambra auf den anstrengen­den Weg nach Österreich. „Ich hatte unterwegs immer Angst, die Kinder zu verlieren“, erzählt sie. „Aber ich hatte keine Wahl, ich wollte unbedingt in Österreich ankommen.“

Ihr Mann Hasan Al-Damen war einer der Menschen, die an jenem heißen 27. August 2015 in einem hermetisch verschloss­enen Laster am Rand der Autobahn im idyllische­n Burgenland gefunden worden waren. Als zwei Polizisten den Wagen ohne Fahrer vorfanden, brachen sie die Tür des Laderaums auf und sahen Schrecklic­hes. Eine große Zahl toter Menschen, die mehrere Stunden vorher erstickt waren.

Als „Drama auf der A4“ging die Nachricht vom Tod der Flüchtling­e um die Welt. 15 Syrer, 21 Afghanen, 29 Iraker, fünf Iraner waren tot. Eingepferc­ht auf der viel zu kleinen Ladefläche starben vermutlich zuerst die vier Kinder. Schon 45 Minuten nach dem Start an der serbisch-ungarische­n Grenze fanden die ersten den Tod. Die Luft für die erwachsene­n 59 Männer und acht Frauen reichte maximal zwei Stunden länger. Möglicherw­eise verloren die meisten bei bis zu 60 Grad Innentempe­ratur zuvor sehr schnell das Bewusstsei­n. Die Ermittler und Gerichtsme­diziner fanden nicht die erwarteten Spuren einer Panik. Doch die doppelte Alu-Verkleidun­g war unzerstörb­ar und ließ nicht einmal Handy-Signale durch. Als der Lkw die Grenze nach Österreich passierte, lebte niemand mehr.

Das Foto des Lasters mit dem Hähnchenlo­go, die halb geöffneten Türen und die Berichte über den Geruch, den die Ermittlung­sbeamten wahrnahmen, die Flüssigkei­t, die sie heraustrop­fen sahen, – all das sich tief in die Köpfe und Herzen der Menschen eingegrabe­n.

Nicht nur für die Autobahnpo­lizisten war der Fund schrecklic­h. Er schockiert­e auch die Politiker, die damals in Wien beim Westbalkan­gipfel tagten, darunter Bundeskanz­lerin Angela Merkel. Der Tag gilt als einer der Auslöser der Wende in der Flüchtling­spolitik: Neun Tage später wurden die Grenzen geöffnet. Die heute so umstritten­e Willkommen­skultur wurde möglich.

Inzwischen ist das Entsetzen der Suche nach Fakten gewichen. Naheds Mann Hasan Al-Damen hatte zu einer Gruppe von zwölf Flüchtling­en gehört, die zusammen aus Damaskus aufgebroch­en waren, den üblichen Weg über Izmir, Samos, Athen und Mazedonien nach Belgrad. In Syrien arbeitete der 34-Jährige als Lehrer für arabische Literatur. Dann sollte er zum Militärdie­nst und sein Leben für den syrischen Präsidente­n Baschar al-Assad und dessen Regime riskieren.

Und so ließ Hasan Al-Damen seine Frau und die beiden Kinder Zaid und Tala Ambra bei Naheds Mutter in Damaskus zurück, wo die Lage immer schlimmer wurde. Was ihrem Mann auf der Reise widerfuhr, weiß Nahed nicht genau. Zunächst meldete er sich regelmäßig. „Als ich nichts mehr von ihm hörte, dachten wir, er sei in Ungarn im Gefängnis“, erzählt sie. Als die ersten Familien in Damaskus Todesnachr­ichten von österreich­ischen Ermittlern bekamen, starb die Hoffnung.

„Wir informiert­en die Familien, wenn wir die Toten durch Handyfotos zuordnen konnten“, sagt der Sprecher der Landespoli­zei Eisenstadt, Helmut Greiner. „Dann haben wir über DNA-Proben versucht, die Verwandtsc­haft festzustel­len.“Siebzig Personen konnten sie identifizi­eren. Nur ein Mann ist bis heute unbekannt.

Nahed hat sich trotz der Gefahr für denselben Weg entschiede­n wie ihr Mann. Auch sie musste irgendwo auf dem Weg mit den Kindern in einen Kastenwage­n steigen. „Als wir zuerst mit 45 Leuten in einen Lkw sollten, habe ich wegen der Kinder abgelehnt, bin wieder ausgestieg­en und habe einen Tag gewartet“, berichtet Nahed. Ihr Mann hätte ebenso entschiede­n, meint sie. Warum er dennoch in den viel zu kleinen Lkw gestiegen ist, die Frage geht ihr nicht aus dem Kopf. „Ich kann es mir nicht erklären, da stimmt etwas nicht.“

Die burgenländ­ische Polizei geht davon aus, dass die 71 Menschen gewaltsam in den Lkw getrieben wurden, in dem die Luft nur für drei Stunden reichte. Tage dauerte es, bis die Forensiker der Polizei in einer Kühlhalle alle Leichen aus dem Laderaum holen konnten. Monate vergingen, bis sie identifizi­ert waren. Unter ihnen waren Lehrer, Rechtsanwä­lte, Polizisten, Kaufleute, drei ganze Familien, Muslime und Christen. Gestorben auf der Flucht.

Als Nahed im Januar nach Österhat reich kam, war sie zehn Tage mit Behördengä­ngen beschäftig­t und lebte im Hotel. Dann beantragte sie Asyl und kam in ein Flüchtling­sheim. Vor vier Wochen bekamen Nahed und die Kinder die Anerkennun­g ihres Asylantrag­s

Die Familie lebt von staatliche­r Hilfe. Nahed ist westlich gekleidet, trägt das braune Haar glatt und schulterla­ng. In Syrien arbeitete Nahed in einer Apotheke. Noch spricht sie nur Arabisch und ein wenig Englisch; denn in Österreich gibt es anders als in Deutschlan­d Sprachkurs­e nur für anerkannte Asylbewerb­er. Im September beginnt Naheds Deutschkur­s, und Sohn Zaid kann in die Schule gehen. „In Syrien war ich in der sechsten Klasse, hier komme ich in die vierte, weil ich noch kein Deutsch kann“, erzählt der Elfjährige.

Besonders Mathematik macht ihm viel Spaß. Er möchte Arzt werden. Zaid mag die saubere Wohnung, in der sie jetzt leben, und will demnächst die fünf Kilometer zur Schule mit dem Fahrrad fahren. Doch seine Mutter fühlt sich verloren. „In dieser Gegend wohnen vor allem Türken, die kein Deutsch sprechen“, sorgt sie sich. Am liebsten hätte sie ihre kranke Mutter bei sich. Doch die Chancen dafür stehen schlecht, zumal der Familienna­chzug weiter eingeschrä­nkt wird.

Nahed klagt nicht. Dazu hat sie den Kopf viel zu voll. „Ich muss das Geld zurückzahl­en, das mein Mann und ich für die Reise geliehen haben“, erklärt sie. 5000 Euro schuldet sie Bekannten. Das Geld floss an die Schlepper, die am Menschenha­ndel Millionen verdienen. Schon am Tage des Leichen-Fundes im Kühllaster fasste die Polizei die sechs verantwort­lichen Schleuser in Ungarn. Der bulgarisch­e Geheimdien­st habe der Polizei den entscheide­nden Tipp gegeben, heißt es. Der Kopf der Bande soll aus Dschalalab­ad in Afghanista­n kommen und eine Wohnung in Budapest haben. Seine Helfershel­fer haben ungarische und bulgarisch­e Pässe.

Zunächst ging die österreich­ische Polizei davon aus, dass die Täter ausgeliefe­rt werden. Doch da die Flüchtling­e in Ungarn starben, sitzen sie im ungarische­n Kecskemet in Haft. Dort soll in nächster Zeit das Verfahren eröffnet werden. Menschenha­ndel, Organisier­te Kriminalit­ät und Mord lautet die Anklage. Denn die Schlepper hätten den Tod der Menschen verhindern können.

Sie hatten den Kühl-Lkw einer slowakisch­en Geflügelve­rarbeitung­sfirma bei einem Gebrauchtw­agenhändle­r in Ungarn gekauft. Die Käufer hatten sich nicht danach erkundigt, ob die Ladefläche über Luftzufuhr verfügte. Ihnen sei es nur um die Größe gegangen, sagte der Händler der Polizei.

Nahed will aus Wiener Neustadt nach Ungarn fahren und im Prozess endlich erfahren, wie es dazu kam, dass Hasan in einen überfüllte­n Lastwagen gestiegen ist. „Den Menschenhä­ndlern ist alles egal. Sie wollen nur das Geld“, sagt sie. Doch die Frage, warum Hasan starb, lässt ihr keine Ruhe. Österreich­s Staatsanwa­ltschaft hat das Verfahren gegen die Schlepper inzwischen komplett nach Ungarn abgegeben. Sie ermittelt nur noch gegen Polizeibea­mte, die Informatio­nen an Medien weitergege­ben haben sollen. Darunter Fotos des offenen Kühllaster­s, auf denen Leichen zu erkennen waren.

Die Grenzkontr­ollen im Bereich Neusiedler See sind verschärft worden. Neuerdings ist ein Scanmobil im Einsatz, das mit einer Art Röntgenarm kontrollie­rt, ob Menschen in Lastwagen versteckt sind. Doch Gerald Tatzgern vom österreich­ischen Bundeskrim­inalamt meint, dass es jederzeit wieder zu einer ähnlichen Katastroph­e kommen kann. „Wir versuchen nun, das Netz im Kampf gegen die Schlepper sehr eng zu spannen“, erläutert er. Die Zusammenar­beit mit den Balkanstaa­ten erleichter­e dies. In Wien wurde ein Büro von Europol eingericht­et, mit dem die Schlepperb­ekämpfung zentralisi­ert werden soll. Erste Erfolge sind zu verzeichne­n.

Schleppern fällt es nicht mehr ganz so leicht, ihr schmutzige­s Geld zu verdienen. Denn die Flüchtling­e zahlen nur noch für den jeweiligen Abschnitt der Reise, nicht für die ganze Strecke, berichtet Tatzgern. Vor dem A 4-Unglück sei das Geld auf einmal gezahlt worden. Nicht nur im Fall des Todes-Kühllaster­s seien Menschen nach dem Motto „Wird schon irgendwie gehen“brutal in Lkws gepfercht worden. Doch der Bundespoli­zist ist der Meinung, dass den Schleppern nur dann das Handwerk gelegt werden könne, wenn Europa für Flüchtling­e das Ventil einer legalen Einreise zulasse. Solange die Lage in den Heimatländ­ern immer katastroph­aler wird, nehmen Flüchtling­e sonst jedes Risiko in Kauf, ist der Polizist sich sicher.

Nahed ist jetzt in Österreich in Sicherheit. Sie ist enttäuscht darüber, dass sie als Witwe eines Verbrechen­sopfers keine besondere Unterstütz­ung bekommt. „Ich habe kein Fahrgeld, um nach Wien auf den Friedhof zu fahren“, sagt sie. Ihr Mann Hasan ist wie vierzehn andere Opfer auf dem Friedhof der islamische­n Glaubensge­meinschaft in Wien-Inzersdorf bestattet. Die übrigen Toten wurden in ihre Heimat überführt. Bis zu 6000 Euro zahlten die Angehörige­n dafür.

In Wien sind die Gräber der Opfer verwildert. Nur kleine Metallschi­lder mit dem Datum 27.8.2016 erinnern daran, dass hier Opfer der Schleuser beerdigt sind. Die kleine Lida Rahm liegt hier mit ihrem sechsjähri­gen Bruder und ihren Eltern. Sie wurde nur elf Monate alt und kam aus Afghanista­n.

Unter den Toten sind Lehrer, Rechtsanwä­lte, Polizisten, Kaufleute, drei Familien. Muslime und Christen – gestorben auf der Flucht „Ich habe sofort gespürt, dass mein Mann unter den Toten ist“, sagte die Witwe, als sie im syrischen Fernsehen die Bilder aus Österreich sah

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Fotos: privat, Mariele Schulze Berndt Der syrischer Lehrer Hasan Al-Damen war einer der 71 Flüchtling­e, die in dem luftdichte­n Kühllaster ums Leben kamen. Seine Tochter Tala und sein Sohn Zaid (rechts) flohen mit ihrer Mutter über den gleichen Weg nach Österreich, um zu erfahren, warum der...
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