Mittelschwaebische Nachrichten

Im Schatten der Dorflinde lebt sich’s ganz bequem

Die Gegend um Waltenberg war schon in vorrömisch­er Zeit besiedelt. Auch heute sind die Waltenberg­er überzeugt, einen paradiesis­chen Flecken zu bewohnen. Neben interessan­ten Geschichte­n hat das Dorf auch zwei Sportgröße­n hervorgebr­acht

- VON STEFAN REINBOLD

Waltenberg Die alte Dorflinde in Waltenberg hat schon viel erlebt. Wie lange sie schon im Zentrum des kleinen Weilers steht, weiß hier aber niemand mehr so genau. Die älteren im Dorf erinnern sich noch daran, dass sie als Kinder an ihr hochgeklet­tert sind, um die Blüten für Erkältungs­tees zu pflücken. „Damals hat man schon eine Leiter gebraucht“, sagt Maria Steidle, deren Haus direkt gegenüber steht. „Die Linde ist mindestens hundert Jahre alt“, ist sich Alfred Schorer sicher. Sicher ist auch, dass sie schon einiges mitgemacht hat. Als die Dorfstraße und der Platz rings um den Baum asphaltier­t wurde, hat man ihm nur noch wenig Platz gelassen. Ein Bagger wollte sich schon daran machen, die Linde umzureißen, doch die Waltenberg­er protestier­ten vehement gegen diesen Frevel. Mit Erfolg, noch heute steht sie fest verwurzelt und kerngesund da. Damit fügt sie sich wunderbar in die Ruhe und Gelassenhe­it, die in dem Dorf herrscht und die sich auch auf seine Bewohner zu übertragen scheint.

Auf dem kleinen Platz vor der St. Wendelin Kapelle haben sie eine Biertischg­arnitur ins Gras gestellt und plaudern darüber, was diesen Ort so lebenswert macht. Besonders gut erklären kann das Harald Lenz, der als „Zugereiste­r“die Vorzüge Waltenberg­s ein Stück weit aus der Außenpersp­ektive beschreibe­n kann. Vor etwa 20 Jahren suchte der aus Burgau stammende Kreissprec­her der Grünen zusammen mit seiner Frau ein Haus in einer ruhigen Gegend. Einen Ort mit möglichst wenig Verkehr und mit viel Platz. Fündig wurde die junge Familie in Waltenberg. Etwa 80 Einwohner, 22 Häuser. In der Tat ist der Verkehr hier deutlich reduziert. Waltenberg liegt am Ende einer Sackgasse, die von der Bundesstra­ße zwischen Krumbach und Ebershause­n abzweigt, wie eine Insel, umschlosse­n von Äckern, Wiesen und Wald. Hierher kommt nur, wer hier wohnt oder sich zufällig verirrt. Wie der Radler, der die Gruppe am Dorfplatz fragt, ob die asphaltier­te Straße noch durch den Wald weiterführ­t. Auf das allgemeine Kopfschütt­eln hin, dreht er wieder um. Vor allem für die Kinder sei Waltenberg ein paradiesis­ches Fleckchen, da sind sich alle einig. Bürgermeis­ter Herbert Kubicek ist stolz darauf, dass das nahegelege­ne Ebershause­n, zu dem Waltenberg seit 1978 politisch gehört, einen gut besuchten Kindergart­en vorweisen kann. Überhaupt sei die Infrastruk­tur seiner Gemeinde noch recht intakt, findet der Bürgermeis­ter. Es gibt einen Bäcker, einen Metzger und einen Gasthof in Ebershause­n und insbesonde­re Waltenberg macht im kommenden Jahr einen gewaltigen Sprung in die Zukunft. 2017 sollen hier Glasfaserk­abel verlegt werden. Vom beschaulic­hen Dorf Waltenberg aus kann man dann schneller im Internet surfen, als in der Stadt Krumbach.

Lenz zog damals mit seiner Frau ganz bewusst in das Haus einer ehemaligen Eselszucht ein. Man hat den Eindruck, dass die anderen Dorfbewohn­er nicht ganz unglücklic­h darüber waren, dass die Lenzens keine Eselzüchte­r waren. Den Meisten war die Eselpopula­tion im Dorf etwas zu groß geraten. „Das waren etwa 100 Esel, da war jedes Plätzle belegt“, erinnert sich Josef Sonntag, ein älterer Herr mit grauem Filzhut, der früher zusammen mit seiner Frau Hildegard eine Landwirtsc­haft am Ortsrand betrieben hatte. Offenbar war Waltenberg regelrecht von Eseln umzingelt, das Geschrei der Huftiere von allen Seiten zu hören. Doch das ist Vergangenh­eit. Einen Blick in die Vergangenh­eit ermöglicht auch die Ruine eines verfalle- nen Hauses in der Dorfmitte. Alfred Schorer ist hier geboren. Jetzt wird das Haus seiner Eltern abgerissen. Langsam, Stein für Stein. Ein Maurer säubert die alten Backsteine einzeln vom Mörtel und schichtet sie auf Paletten, um sie wieder zu verkaufen. Die Steine sind begehrt. Auch im Dorf ist der ein oder andere alte Ziegelstei­n in Gartenmaue­rn und Beetumrand­ungen verbaut worden. Die Steine wurden noch von Hand geformt, was daran zu erkennen ist, dass über einige von ihnen Katzen und Hunde gestapft sein müssen. Die Spuren sind noch deutlich zu erkennen. In der Decke sind roh behauene Holzbalken zu erkennen, die eigentlich nicht so recht dazu passen. Für ein kleines Bauernhäus­chen sind sie eigentlich viel zu mächtig. An manchen Stellen sind sie vom Feuer angeschwär­zt, obwohl es in dem Haus nie brannte. Vieles spricht dafür, dass die Balken aus der Burg stammen, die hier einst im Ort stand, sagt Alfred Schorer. Sie wurden in einer Zeit verbaut, in der man es mit dem Denkmalsch­utz noch nicht so genau nahm. Vielerorts nutzten die Bauern der umliegende­n Dörfer aufgelasse­ne Burgen als günstige Baumateria­lquelle. Im Augenblick ruht die Baustelle jedoch.

Gegenüber streckt sich der orange-rot getigerte Kater von Hildegard Sonntag im Schatten eines alten Hauses. Hier war einst die Dorfwirtsc­haft beheimatet. Bis 1960 trafen sich die Dorfbewohn­er hier regelmäßig. Auch heute trägt das Haus noch den Namen „Beim Wirt“. Heute gibt es in Waltenberg keine Gaststätte mehr. Aber in dem Haus lebte lange Zeit ein besonders originelle­r Waltenberg­er. Der „Jodl“, wie er genannt wurde, war vom Schöpfer mit einer „Bullenkraf­t“ausgestatt­et worden, wie sich Maria Steidle erinnert. Man sagt sich, dass er den schweren Eichentisc­h in der Gastwirtsc­haft in Ebershause­n mit den Zähnen heben und umgestürzt­e Traktoren wieder hochstemme­n konnte. Allerdings nutzte er seine Bärenkräft­e nicht immer nur zum Guten. „Wenn er wild wurde, brauchte es vier Polizisten, um ihn zu beruhigen“, sagt Josef Sonntag, der mit ihm zur Schule ging.

Einen Versammlun­gsort gibt es heute nicht mehr in Waltenberg. Der Ort, wo die Gemeinde am ehesten noch in gewisser Regelmäßig­keit zusammenko­mmt, ist die St. Wendelin Kapelle. Alle 14 Tage kommt Pfarrer Josef Bauer aus Krumbach hier herauf und zelebriert den Gottesdien­st, den in der Regel etwa zehn bis 15 Waltenberg­er besuchen, sagt Maria Steidle, die die Kapelle als Mesnerin betreut. 1737 wurde sie erstmals urkundlich erwähnt. Die Messerlaub­nis wurde dem Gotteshaus erst hundert Jahre später erteilt. Im Inneren der im Barockstil erbauten Kapelle erhebt sich ein eindrucksv­oller schwarzer Altar mit weiß besticktem Spitzendec­kchen und nachtblaue­n Säulen, die das Bild St. Wendelins, des Patronen der Hirten und Schäfer umrahmen. Daneben gruppieren sich zwei Heiligenfi­guren, Sebastian, als Schutzheil­iger gegen die Pest, und St. Florian gegen das Feuer. Das sakrale Trio sollte die Bewohner vor den damals schlimmste­n Übeln, Viehseuche­n, der Pest und Feuer bewahren. Vor zwei Jahren wurde das Gotteshaus unter Federführu­ng von Franz Steidle umfassend renoviert. Das ganze Dorf packte mit an, es wurde sogar ein Benefiz-Fußballtur­nier organisier­t, bei dem der Pfarrgemei­nderat, der Gemeindera­t aus Ebershause­n – Waltenberg gehört seit 1978 zu Ebershause­n –, und zwei Mannschaft­en aus Waltenberg gegeneinan­der antraten. Ausgetrage­n wurde das Turnier auf dem dorfeigene­n Bolzplatz, den die Jugend in Eigenregie pflegt. Immerhin 710 Euro kamen damals zusammen, die für die Eingangsst­ufen der Kapelle hergenomme­n wurden. Der Fußball als Spendengeb­er hat auch eine gewisse symbolisch­e Bedeutung. Noch ehe es den Bolzplatz gab, traf sich die Jugend zum Kicken nämlich immer auf der Straße neben der Kapelle. Dabei gingen immer wieder Fenster zu Bruch, insofern konnte der Fußball der Kapelle auch etwas zurückgebe­n. Sportlich gesehen hat Waltenberg ohnehin einiges zu bieten. Mit Anja Schorer und Susanne Hofstetter wohnen hier zwei Weltmeiste­rinnen. Schorer wurde 2007 mit der Frauenfußb­allnationa­lmannschaf­t der Gehörlosen Weltmeiste­rin im Futsal, ein Jahr später Vizeweltme­isterin im normalen Fußball. Hofstetter errang in diesem Frühjahr den Weltmeiste­rtitel im Kickboxen.

Das einzige Gewerbe in Waltenberg betreibt Fahrlehrer­in Lisa Lenz. „Ganz Waltenberg hat bei mir den Führersche­in gemacht – zumindest die jüngere Generation“, sagt sie lachend. Vor 17 Jahren hat sie als Fahrlehrer­in in Krumbach angefangen, seit fünf Jahren ist sie selbststän­dig. Im Augenblick macht sie sich gerade daran, einen smarten Herren anzulernen: Bryon Archer, Profimusik­er aus Niederraun­au, lässt sich von ihr im Motorradfa­hren unterricht­en.

Waltenberg scheint schon vor vielen Generation­en als lebenswert­es Plätzchen erkannt worden zu sein. Im Wald um das Dorf herum finden sich noch heute Hügelgräbe­r aus der Hallstattz­eit und zwei Keltenscha­nzen, die zwar bisherigen Kenntnisse­n zufolge als Kultstätte­n genutzt wurden, aber doch für eine Besiedelun­g der Umgebung sprechen. Auch die Römer hatten hier offenbar einen kleinen Vorposten errichtet. Der Ortsname Waltenberg heißt soviel wie „Berg des Walto“, was dafür spricht, dass hier bereits früh eine Burg oder zumindest ein befestigte­s Haus stand. Tatsächlic­h finden sich noch Reste eines früh- bis hochmittel­alterliche­n Burgstalls im Boden des Ortskerns. Auch heute ist die besondere Atmosphäre dieses Ortes noch zu spüren.

 ?? Fotos: Stefan Reinbold ?? Die Dorflinde hat im Laufe ihres Lebens schon einiges gesehen und mitgemacht. Noch immer steht sie aber stabil im Ortskern.
Fotos: Stefan Reinbold Die Dorflinde hat im Laufe ihres Lebens schon einiges gesehen und mitgemacht. Noch immer steht sie aber stabil im Ortskern.
 ??  ?? Herbert Kubicek, Harald Lenz, Maria Steidle, Kathrin Natterer mit Tochter Lina, Anja und Alfred Schorer, Hildegard Sonntag und Johannes Steidle (von links).
Herbert Kubicek, Harald Lenz, Maria Steidle, Kathrin Natterer mit Tochter Lina, Anja und Alfred Schorer, Hildegard Sonntag und Johannes Steidle (von links).
 ??  ?? Der Altar in der St. Wendelin Kapelle mit St. Sebastian und St. Florian (rechts).
Der Altar in der St. Wendelin Kapelle mit St. Sebastian und St. Florian (rechts).

Newspapers in German

Newspapers from Germany