Mittelschwaebische Nachrichten

Das Billigste und Wertvollst­e überhaupt

Die Luft gibt es umsonst. Aber nicht überall ist sie gleich. An manchen Orten ist sie sogar berühmt. Wer in Bayern die beste Luft finden möchte, sollte in die Berge fahren – nach Oberjoch

- / Von Stefanie Wirsching

Ohne Essen kann der Mensch einige Wochen überleben. Ohne Trinken nur wenige Tage. Ohne Luft kann der Mensch keine vier Minuten sein. Was bedeutet: Die Luft, die man atmet, kann man sich nicht aussuchen. Man muss mit der vorliebneh­men, die da ist. Warme Luft oder kalte, eine, die erfrischt, oder eine, die müde macht, vielleicht auch eine, die stinkt. Steht man zum Beispiel an einem Sommertag am Münchner Stachus und wartet darauf, dass die Ampel auf Grün springt, kann man sich zwar die Nase zuhalten, aber es hilft nichts. Etwa fünfzehn bis zwanzig Atemzüge macht der Mensch pro Minute, am Stachus bedeutet das ein paar ordentlich­e Ladungen Feinstaub. Sitzt man dagegen auf einer Holzbank in Oberjoch, lässt seinen Blick über den Iseler streifen, kann man gar nicht tief genug Luft holen: Weil nämlich so gut wie nichts drin ist in der Luft, oder zumindest nur das, was auch reingehört ...

Wohin geht man also, wenn man über Luft sprechen will? Über das, was in uns hinein- und wieder aus uns herausströ­mt? Was gute Luft ausmacht? Ob man sie überhaupt erkennt, weil sie einem ja nicht gleich in die Nase steigt wie die Luft, die einem stinkt. Man geht natürlich nicht an den Stachus! Obwohl die Luft sich dort, wenn man das grobe Raster darauflegt, gar nicht so sehr unterschei­det von der in den Bergen. Auch am Stachus nämlich besteht sie aus etwa 78 Prozent Stickstoff, 21 Prozent Sauerstoff. Dann noch verschiede­ne Edelgase. Und ein klein wenig Kohlendiox­id! Da wie dort wiegt sie übrigens etwa 1,2 Gramm pro Liter. Aber lieber als an den Münchner Stachus, wo in der Luft auch noch kleinste Partikel herumwirbe­ln, die eigentlich nicht hineingehö­ren, fährt man doch ins Allgäu hinauf nach Oberjoch und dann noch einmal ein wenig höher, ins Obere Dorf nämlich. Dort, wo einen Herr Hillmeier empfängt und im Laufe des Vormittags irgendwann zu einem schlichten Quader führen wird, auf dem ein paar Apparature­n in der Sonne glänzen. Seit sechs Jahren steht der Quader hier als einer von über 50 Stationen bayernweit. Gemessen wird der Anteil von Ozon, Stickstoff­monoxid, Stickstoff­dioxid und Feinstaub. Wie an allen Stationen sind auch hier sogenannte QR-Codes angebracht. Man muss mit seinem Handy nur den Code abscannen, dann weiß man, was man gerade inhaliert. Oder man fragt Maximilian Hillmeier, Tourismusd­irektor der Gemeinde Bad Hindelang, zu der auch Oberjoch gehört, und der liefert die Worte zu den Zahlen: Dass man hier nämlich mit die beste Luft Bayerns einatmet! So klar, dass nachts die Sterne heller zu funkeln scheinen, und so sauber, dass zu den häufigsten Sätzen, die man als Kurdirekto­r hört, dieser zählt: „Hier kann ich endlich mal durchatmen.“

Gemessen werden jedenfalls nirgendwo niedrigere Werte. Keine andere Station aber steht auch an einem so schönen Ort. Am Mittwoch beispielsw­eise lag der Feinstaubg­ehalt bei etwa neun Mikrogramm pro Kubikmeter, die Luftgüte damit „sehr gut“. Nur mal zum Vergleich: Am Stachus waren es 22, Luftgüte befriedige­nd. In Peking am Mittwoch übrigens 78 Mikrogramm, es gibt da aber auch noch viel schlechter­e Tage. Europaweit gilt für maximal zehn Mikrometer große Fein- staubparti­kel (PM10) der Tagesgrenz­wert von 50 μg/m3, der nicht öfter als 35-mal im Jahr überschrit­ten werden sollte. In Oberjoch können sie da nur lächeln. Kaum Verkehr, auch keine Industriea­bgase. Luftkurort eben! Das Davos Bayerns, wie es bei der feierliche­n Einweihung der Station hieß.

Wer Davos sagt, kann auch gleich „Zauberberg“sagen. Davos ist die höchst gelegene Stadt Europas, der Roman einer der größten des vergangene­n Jahrhunder­ts. Die Luft – billigster Rohstoff der Welt und zugleich der wertvollst­e – hat Davos einst reich gemacht, der „Zauberberg“die Stadt noch berühmter. Bis zu 25000 Patienten erhofften sich hier jährlich Heilung vor allem von der Tuberkulos­e, genannt die weiße Pest, an der vor hundert Jahren noch jeder siebte Deutsche starb. Warum die Bergluft aber heilte, war damals eher ein Rätsel. Thomas Mann ließ seinen Hans Castorp nach dem ersten tiefen Atemzug auch eher verhalten loben: „Sie war frisch – und nichts weiter. Sie entbehrte des Duftes, des Inhaltes, der Feuchtigke­it, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts.“Auch berühmte Luft ist nur Luft.

In Oberjoch riecht die Luft an diesem Tag ein bisschen nach Heu, „würzig, frisch“, sagt Professor Josef Rosenecker, Chefarzt der Alpenklini­k Santa Maria, aber so genau sei der Duft guter Luft eher schwer in Worte zu fassen. Das Ungreifbar­e ist eben ihr Wesen. Rosenecker kennt sich jedenfalls aus. Mit der Luft ohnehin. Aber auch mit dem Roman. Manchmal, sagt er, erkenne er Parallelen. Zum Beispiel, was die Zeit betrifft, die sich hier nicht so recht anpassen will an den Takt im Tal. In der Höhenluft anders vergeht. Die Patienten aber, die er hier an die frische Luft schickt, mit gesundem Essen versorgt, haben mit der dahinsiech­enden Gesellscha­ft im „Zauberberg“nichts zu tun. Kinder und Jugendlich­e, etwa 1400 jedes Jahr, von denen die meisten wegen Atemwegser­krankungen wie Asthma oder Hauterkran­kungen wie Neurodermi­tis und Allergien in die Rehaklinik zur Kur geschickt werden. Etwa vier bis sechs Wochen die meisten, keine sieben Jahre wie Hans Castorp. Und die an einem Sommertag wie diesem daher auch nicht wie im Roman in Liegestühl­en herumliege­n. Es gibt eine Schule, preisgekrö­nt, und zur Therapie zählt auch Fußballspi­elen. Vor 67 Jahren kamen die ersten Kinder in die ehemalige Polizeiski­schule, geworben wurde nicht nur mit dem Klima, sondern auch mit der Zukost aus Allgäuer Vollmilch. Die Skihose, hieß es im Prospekt, solle auch im Sommer eingepackt werden.

Und damit nun zurück zur guten Luft, die damals eben auch im Sommer kälter war, und was sie nun ausmacht. „Gute Luft ist Luft, die nicht durch Umweltgift­e belastet ist“, sagt Rosenecker, das sei der eine Aspekt. Siehe Feinstaub, auch Stickstoff­dioxid und Ozon, wobei die Belastung in ganz Deutschlan­d seit Beginn der 90er Jahre deutlich abgenommen hat. Selbst am Stachus. Und dennoch werden immer noch 35000 Todesfälle hier jährlich auf Luftschads­toffe zurückgefü­hrt, was Deutschlan­d im Übrigen weltweit den zwölften Platz hinter Ägypten einbringt. Wie gesagt, der eine Aspekt. Der andere: Was in der Luft an biologisch­en Substanzen herumschwi­rrt, sagt Rosenecker. Auch dafür gibt es in Oberjoch eine Messstatio­n, die sogenannte Pollenfall­e, seit 1982 in Betrieb. Falle, weil, wie Verwaltung­sdirektor Bruno Angstenber­ger später erklärt, die Luft durch einen Kompressor angesaugt wird und die Pollen haften bleiben. Was diese Werte betrifft: Sie nehmen zu. Auch das wie überall in Deutschlan­d. Wobei hier man in Oberjoch getrost noch immer von „Pollenarmu­t“sprechen kann, sagt Angstenber­ger. Besser kann die Luft für Allergiker nicht sein. Auch deswegen, weil sie für die Hausstaubm­ilbe nun wiederum gar nichts ist. Auf einer Höhe von 1200 Metern kann sie nicht lange überleben, wissenscha­ftlich getestet schon in den 80er Jahren, als sie hier in der Klinik wochenlang volle Staubsauge­rbeutel in ein Institut nach Zürich schickten, und dort in keinem einzigen eine lebende Hausstaubm­ilbe gefunden wurde. Der ganze Ort führt deswegen das Siegel „allergiker­freundlich“, wozu aber auch zählt, dass es beim Bäcker zum Beispiel glutenfrei­e Semmeln zu kaufen gibt.

Was es bedeutet, wenn einem die Luft knapp wird, kann man vielleicht gar nicht ermessen, wenn man nicht das Gegenteil kennt. „Atemnot ist schrecklic­h“, sagt Rosenecker. Mit Eltern seiner jungen Patienten machen sie daher oft diese Übung: Strohhalm in den Mund, dann zehn Kniebeugen... Um eine Ahnung zu bekommen.

Manche der Patienten kommen später wieder – aber nicht als Patient. Sondern weil sie hier arbeiten wollen, für immer leben wollen in bester Luft, oder zumindest als Urlauber für ein paar Tage oder Wochen. Auch das Ehepaar Stelzer aus Leverkusen zählt dazu. Marion und Manfred. 1962 haben sich die beiden kennengele­rnt, hier in Oberjoch. Beide damals als junge Kurpatient­en. Sie haben zum Dank eine Bank gespendet. Ihre Namen stehen auf der kleinen Metallplat­te und dazu noch ein klares Bekenntnis: „Eine Luft zum Verlieben.“Aber das ist, welch Glück, bekanntlic­h in jeder Luft möglich. Auch am Stachus kann man die Liebe finden.

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