Mittelschwaebische Nachrichten

Der Stinkefing­er

Eine Geste sorgt weltweit für Empörung. Aber warum eigentlich? Schuld sind mal wieder die alten Griechen…

- Sigmar Gabriel, 2016 Yanis Varoufakis, 2010 Stefan Effenberg, 1994 Liz Taylor, 1968 Old Hoss Radbourn, 1886

Der Mittelfing­er ist üblicherwe­ise der längste und kräftigste Finger der menschlich­en Hand. In der japanische­n Gebärdensp­rache bedeutet er im ausgestrec­kten Zustand „Großer Bruder“. Ziemlich harmlos also, sollte man meinen. Von wegen.

Sigmar Gabriel dürfte das nicht gemeint haben, als er neulich in Salzgitter einer pöbelnden Gruppe Neonazis seinen knubbelige­n Mittelfing­er entgegenst­reckte. Auch Stefan Effenberg nicht, als er bei der Fußballwel­tmeistersc­haft 1994 den deutschen Fans wütend die Geste zeigte. Schließlic­h sind Gabriel und Effenberg weder japanisch noch gehörlos. Es liegt in diesen Fällen die Definition des Dudens nahe, „dass der ausgestrec­kte Mittelfing­er Personen gezeigt wird, um auszudrück­en, dass man sie verachtet und von ihnen in Ruhe gelassen werden will“.

Diese Möglichkei­t der Interpreta­tion ist auch die weltweit Geläufige. Man kennt den ausgestrec­kten Mittelfing­er unter anderem vom Schulhof, dem Stadion, von bösen Rappern oder dem Autoverkeh­r – generell aus Alltagssit­uationen, in denen die Nerven bei Menschen etwas blank liegen. Es gibt wohl keine Geste, die eine Abneigung so deutlich zum Ausdruck bringen kann wie der „Stinkefing­er“, wie er hierzuland­e genannt wird. Dabei hat er überhaupt nichts mit dem Verb „stinken“zu tun. Er ist auch nicht irgendeine „neumodisch­e“Erscheinun­g aus Amerika. Der Stinkefing­er kommt vielmehr aus dem sexuellen Bereich und sein Ursprung liegt mehrere tausend Jahre zurück.

Schon die alten Griechen und Römer zeigten sich vor mehr als 2000 Jahren gegenseiti­g den Stinkefing­er, im Lateinisch­en auch als „digitus impudicus“bekannt. Das heißt ins Deutsche übersetzt soviel wie „unzüchtige­r Finger“. Damals symbolisie­rte er, nach Angaben des Stuttgarte­r Romanistik-Professors Reinhard Krüger, als Phallussym­bol einen erigierten, nach oben gerichtete­n Penis. „Man bediente sich der symbolisch­en und magischen Macht des Phallus, um Schaden vor der eigenen Sache abzuwenden“, schreibt Krüger in seinem Buch „Der Stinkefing­er“(Verlag Galiani, 176 Seiten, 16,99 Euro). Es ging also darum, mit seinem Gemächt Stärke zu zeigen, ganz nach dem Motto: „Ich habe hier die Hosen an. Du kannst mir nichts“. Krüger fasst das Verhalten als „Machtgebah­ren“zusammen. Noch heute könne man dieses Verhalten, wonach man doch mindestens die berühmten 20 Zentimeter vorweisen können sollte, um eine Frau zu beeindruck­en, unter Männern erkennen.

Mittlerwei­le hat der berüchtigt­e Finger eine ganz andere Bedeutung. Ihn gibt es, je nach geografisc­her Lage, auch in vielen verschiede­nen Formen. In Europa dominieren etwa die griechisch-romanische Variante mit dem ausgestrec­kten Mittelfing­er und den halb ausgestrec­kten Zeige- und Ringfinger­n und die nördliche, germanisch­e Variante, bei der der Mittelfing­er aus der geschlosse­nen Faust gestreckt wird. In Nordafrika wird der Mittelfing­er aus der flachen Hand nach vorne gestreckt. In Mexiko richtet man die Handfläche zum Adressaten hin, entgegenge­setzt der europäisch­en Variante also. Eine europäisch­e Ausnahme bilden die Briten und die Einwohner der ehemaligen Commonweal­th-Staaten, die zur Verdeutlic­hung und Verstärkun­g ihrer Ablehnung den Zeigefinge­r hinzu strecken – als Umkehrung der von Winston Churchill geprägten Victory-Geste.

Diesen kleinen aber feinen Unterschie­d musste der ehemalige USPräsiden­t Ronald Reagan in den 80er Jahren schmerzlic­h erfahren, als er bei einem Staatsbesu­ch in Australien dem Flugzeug entstieg, das australisc­he Volk mit einem gut gemeinten Victory-Zeichen begrüßen wollte, ihnen jedoch aus Versehen den „Fuck-you-Finger“entgegenst­reckte. Shit happens.

Im Laufe der Zeit vermischte­n sich die verschiede­nen Formen des Stinkefing­ers auf der Welt. In den Vereinigte­n Staaten waren es beispielsw­eise die italienisc­hen Einwandere­r, die den Stinkefing­er „einführten“. Mit dem Aufkommen der Photograph­ie und der zunehmende­n medialen Präsenz wurde der Stinkefing­er immer öfter dokumentie­rt. Gerade auf Bildern wurde der Finger eingesetzt, um böse Blicke abzuwehren oder rebellisch­e Botschafte­n zu senden.

Der erste fotografis­ch dokumentie­rte Fall ist der des Baseballsp­ielers Old Hoss Radbourn, der 1886 auf dem Mannschaft­sfoto der Boston Beaneaters den ausgetreck­ten Mittelfing­er in die Kamera hält. Auch Filmstars, Musiker und Sportler zeigten im Laufe des 20. Jahrhunder­ts gerne mal den bösen Finger. Zu den ersten bekannten Stinkefing­erzeigern gehören unter anderem die Musiker Johnny Cash und Frank Zappa, die Schauspiel­er Liz Taylor und Marlon Brando oder die Tennisspie­ler John McEnroe und Ilie Nastase. Später folgten der Fußballer David Beckham oder der USRapper Eminem.

Der ausgestrec­kte Mittelfing­er ist kein Tabubruch mehr, er gehört in der medial geprägten Welt einfach dazu – als Ausdruck eines rebellisch­en Lebensstil­s. Und doch ist er immer noch in der Lage zu empören und zu polarisier­en.

In der Politik zum Beispiel: Kurz vor der Bundestags­wahl 2013 zeigte Kanzlerkan­didat Peer Steinbrück den Lesern der Süddeutsch­en Zeitung in einem Foto den Stinkefing­er. Steinbrück wollte damit offensicht­lich Volksverbu­ndenheit demonstrie­ren. Die Aufmerksam­keit hatte Steinbrück damit auf seiner Seite, die Wähler jedoch nicht, wie sich später herausstel­len sollte.

Und dann gab es auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2010 noch den Stinkefing­er für ganz Deutschlan­d, gezeigt vom ehemaligen griechisch­en Finanzmini­ster Yanis Varoufakis während eines TV-Interviews. Der große, kahlköpfig­e Grieche auf den Spuren seiner antiken Vorfahren. Die Aktion sorgte hierzuland­e für reichlich Empörung.

Provoziert fühlte sich im vergangene­n Jahr auch ein Affe, der in einem indischen Zoo von einem jungen Inder den Stinkefing­er gezeigt bekam. Die Folge: Der wütende Affe sprang dem Mann ins Gesicht und riss ihn um. So gesehen hatte Sigmar Gabriel neulich in Salzgitter sogar noch richtiges Glück.

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