Mittelschwaebische Nachrichten
Der Stinkefinger
Eine Geste sorgt weltweit für Empörung. Aber warum eigentlich? Schuld sind mal wieder die alten Griechen…
Der Mittelfinger ist üblicherweise der längste und kräftigste Finger der menschlichen Hand. In der japanischen Gebärdensprache bedeutet er im ausgestreckten Zustand „Großer Bruder“. Ziemlich harmlos also, sollte man meinen. Von wegen.
Sigmar Gabriel dürfte das nicht gemeint haben, als er neulich in Salzgitter einer pöbelnden Gruppe Neonazis seinen knubbeligen Mittelfinger entgegenstreckte. Auch Stefan Effenberg nicht, als er bei der Fußballweltmeisterschaft 1994 den deutschen Fans wütend die Geste zeigte. Schließlich sind Gabriel und Effenberg weder japanisch noch gehörlos. Es liegt in diesen Fällen die Definition des Dudens nahe, „dass der ausgestreckte Mittelfinger Personen gezeigt wird, um auszudrücken, dass man sie verachtet und von ihnen in Ruhe gelassen werden will“.
Diese Möglichkeit der Interpretation ist auch die weltweit Geläufige. Man kennt den ausgestreckten Mittelfinger unter anderem vom Schulhof, dem Stadion, von bösen Rappern oder dem Autoverkehr – generell aus Alltagssituationen, in denen die Nerven bei Menschen etwas blank liegen. Es gibt wohl keine Geste, die eine Abneigung so deutlich zum Ausdruck bringen kann wie der „Stinkefinger“, wie er hierzulande genannt wird. Dabei hat er überhaupt nichts mit dem Verb „stinken“zu tun. Er ist auch nicht irgendeine „neumodische“Erscheinung aus Amerika. Der Stinkefinger kommt vielmehr aus dem sexuellen Bereich und sein Ursprung liegt mehrere tausend Jahre zurück.
Schon die alten Griechen und Römer zeigten sich vor mehr als 2000 Jahren gegenseitig den Stinkefinger, im Lateinischen auch als „digitus impudicus“bekannt. Das heißt ins Deutsche übersetzt soviel wie „unzüchtiger Finger“. Damals symbolisierte er, nach Angaben des Stuttgarter Romanistik-Professors Reinhard Krüger, als Phallussymbol einen erigierten, nach oben gerichteten Penis. „Man bediente sich der symbolischen und magischen Macht des Phallus, um Schaden vor der eigenen Sache abzuwenden“, schreibt Krüger in seinem Buch „Der Stinkefinger“(Verlag Galiani, 176 Seiten, 16,99 Euro). Es ging also darum, mit seinem Gemächt Stärke zu zeigen, ganz nach dem Motto: „Ich habe hier die Hosen an. Du kannst mir nichts“. Krüger fasst das Verhalten als „Machtgebahren“zusammen. Noch heute könne man dieses Verhalten, wonach man doch mindestens die berühmten 20 Zentimeter vorweisen können sollte, um eine Frau zu beeindrucken, unter Männern erkennen.
Mittlerweile hat der berüchtigte Finger eine ganz andere Bedeutung. Ihn gibt es, je nach geografischer Lage, auch in vielen verschiedenen Formen. In Europa dominieren etwa die griechisch-romanische Variante mit dem ausgestreckten Mittelfinger und den halb ausgestreckten Zeige- und Ringfingern und die nördliche, germanische Variante, bei der der Mittelfinger aus der geschlossenen Faust gestreckt wird. In Nordafrika wird der Mittelfinger aus der flachen Hand nach vorne gestreckt. In Mexiko richtet man die Handfläche zum Adressaten hin, entgegengesetzt der europäischen Variante also. Eine europäische Ausnahme bilden die Briten und die Einwohner der ehemaligen Commonwealth-Staaten, die zur Verdeutlichung und Verstärkung ihrer Ablehnung den Zeigefinger hinzu strecken – als Umkehrung der von Winston Churchill geprägten Victory-Geste.
Diesen kleinen aber feinen Unterschied musste der ehemalige USPräsident Ronald Reagan in den 80er Jahren schmerzlich erfahren, als er bei einem Staatsbesuch in Australien dem Flugzeug entstieg, das australische Volk mit einem gut gemeinten Victory-Zeichen begrüßen wollte, ihnen jedoch aus Versehen den „Fuck-you-Finger“entgegenstreckte. Shit happens.
Im Laufe der Zeit vermischten sich die verschiedenen Formen des Stinkefingers auf der Welt. In den Vereinigten Staaten waren es beispielsweise die italienischen Einwanderer, die den Stinkefinger „einführten“. Mit dem Aufkommen der Photographie und der zunehmenden medialen Präsenz wurde der Stinkefinger immer öfter dokumentiert. Gerade auf Bildern wurde der Finger eingesetzt, um böse Blicke abzuwehren oder rebellische Botschaften zu senden.
Der erste fotografisch dokumentierte Fall ist der des Baseballspielers Old Hoss Radbourn, der 1886 auf dem Mannschaftsfoto der Boston Beaneaters den ausgetreckten Mittelfinger in die Kamera hält. Auch Filmstars, Musiker und Sportler zeigten im Laufe des 20. Jahrhunderts gerne mal den bösen Finger. Zu den ersten bekannten Stinkefingerzeigern gehören unter anderem die Musiker Johnny Cash und Frank Zappa, die Schauspieler Liz Taylor und Marlon Brando oder die Tennisspieler John McEnroe und Ilie Nastase. Später folgten der Fußballer David Beckham oder der USRapper Eminem.
Der ausgestreckte Mittelfinger ist kein Tabubruch mehr, er gehört in der medial geprägten Welt einfach dazu – als Ausdruck eines rebellischen Lebensstils. Und doch ist er immer noch in der Lage zu empören und zu polarisieren.
In der Politik zum Beispiel: Kurz vor der Bundestagswahl 2013 zeigte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück den Lesern der Süddeutschen Zeitung in einem Foto den Stinkefinger. Steinbrück wollte damit offensichtlich Volksverbundenheit demonstrieren. Die Aufmerksamkeit hatte Steinbrück damit auf seiner Seite, die Wähler jedoch nicht, wie sich später herausstellen sollte.
Und dann gab es auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2010 noch den Stinkefinger für ganz Deutschland, gezeigt vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis während eines TV-Interviews. Der große, kahlköpfige Grieche auf den Spuren seiner antiken Vorfahren. Die Aktion sorgte hierzulande für reichlich Empörung.
Provoziert fühlte sich im vergangenen Jahr auch ein Affe, der in einem indischen Zoo von einem jungen Inder den Stinkefinger gezeigt bekam. Die Folge: Der wütende Affe sprang dem Mann ins Gesicht und riss ihn um. So gesehen hatte Sigmar Gabriel neulich in Salzgitter sogar noch richtiges Glück.