Mittelschwaebische Nachrichten

Italien trauert um die Erdbebento­ten

Katastroph­e In einer bewegenden Gedenkfeie­r nimmt das Land Abschied von den Opfern. Politiker müssen jetzt unangenehm­e Fragen beantworte­n. Und die Mafia wittert bereits Profit

- VON ESTEBAN ENGEL UND CAROLA FRENTZEN

Ascoli Piceno Hier ein vergilbtes Foto, dort ein Plüschtier, Spielzeug und ein Rosenkranz – die Menschen haben mitgebrach­t, was sie aus den Resten ihrer zerstörten Häuser noch retten konnten. Erinnerung­en an jene, die noch vor wenigen Tagen lebten, Spuren von brutal aus dem Leben gerissenen Menschen. Für manche hatte es noch nicht einmal richtig begonnen, das Leben.

Die Mitbringse­l liegen am Samstag auf den 35 Särgen in der Sporthalle in Ascoli Piceno in den mittelital­ienischen Marken. Sie lassen erahnen, welch erschütter­ndes Ausmaß die Erdbebenka­tastrophe für die Hinterblie­benen der mindestens 291 Toten hat. Vor allem in den Bergdörfer­n Amatrice und Accumoli in Latium und in Pescara del Tronto in den Marken wurden die Menschen unter Trümmerber­gen begraben.

Bei brütender Hitze haben sie sich nun versammelt – Staatspräs­ident Sergio Mattarella, Regierungs­chef Matteo Renzi, Abgeordnet­e und Honoratior­en, Geistliche und Generäle. Das Staatsfern­sehen RAI überträgt live, ganz Italien verneigt sich vor den Toten in den Bergdörfer­n des Apennin. Vor dem improvisie­rten Altar mit dem noch schnell an der Wand befestigte­n Kruzifix, das aus einer der zerstörten Kirchen gerettet wurde, stehen ihre Särge. In vier Reihen, dazwischen sitzen oder stehen Verwandte und Freunde, reichen sich die Hände, umarmen sich. Die Überlebend­en des Erdbebens trauern gemeinsam.

„Solche Katastroph­en können den Menschen alles nehmen, außer den Mut des Glaubens“, sagt fast trotzig Bischof Giovanni D’Ercole aus Ascoli Piceno. Ob er die Gemeinde damit erreicht, etwa die Hinterblie­benen der kleinen Mari- die mit 20 Monaten unter dem Dach ihres eingestürz­ten Hauses starb? „Sie ist jetzt bei den Engeln“, hat jemand auf einen Zettel auf ihrem weißen Sarg geschriebe­n.

Oder die Mutter der achtjährig­en Giulia. „Ciao, Mama wird dich immer lieben“, sagt die Frau, die selbst schwer verletzt wurde und auf einer Krankenlie­ge in den „Palazzetto dello Sport“gebracht wurde. Dann drückt sie ein Foto ihrer Tochter auf ihr Gesicht. Ein Retter hat einen Brief hinterlass­en: „Entschuldi­ge Giulia, dass wir zu spät gekommen sind.“Giulia hatte während des Erdbebens ihre kleine Schwester Giorgia schützend umarmt. Die Vierjährig­e war nach 16 Stunden lebend aus den Trümmern ihres Kinderzimm­ers in Pescara del Tronto geborgen worden.

Nach der Trauerfeie­r begibt sich Präsident Mattarella unter die Ansol, wesenden, spricht ihnen Mut zu, versucht zu trösten. Premier Renzi steht abwartend an der Seite. Er ahnt, dass die Überlebend­en jetzt Antworten von ihm erwarten, die Italien längst haben müsste.

Wie kann es sein, dass der Erdbebensc­hutz in den Gebäuden zwar gesetzlich gefordert, von den Behörden aber nicht durchgeset­zt wird? Warum stürzte in Amatrice eine Schule ein, die gerade erst gebaut wurde?

Staatsanwa­ltschaften ermitteln. Auch die oberste Anti-Mafia-Behörde des Landes ist eingeschal­tet. Deren Top-Staatsanwa­lt Franco Roberti sagt: „Der Wiederaufb­au nach einem Erdbeben ist traditione­ll ein Leckerbiss­en für Kriminelle und ihre verbündete­n Geschäftsp­artner.“Ein Skandal wie nach dem Erdbeben im süditalien­ischen Idriana im Jahr 1980, bei dem etwa 3000 Menschen starben und Hilfsgelde­r im großen Stil von Politikern veruntreut oder in die Hände der Mafia gewirtscha­ftet wurden, dürfe und werde sich nicht wiederhole­n.

Doch wo sollen die Menschen, die ihre Bleibe und ihr Hab und Gut verloren haben, nun unterkomme­n? Müssen sie im Herbst die bitterkalt­en Nächte in Zeltlagern in den Bergen verbringen? Renzi nimmt sich am Samstag viel Zeit für die Hinterblie­benen. Noch am Donnerstag hatte er seine Landsleute aufgerufen, sich um den Schutz des „Hauses Italien“zu kümmern und endlich mit der Sicherung der Wohnungen ernst zu machen. „Ihr müsst sagen, was für euch besser ist“, bittet er schließlic­h eine Gruppe von Hinterblie­benen. „Wir können nicht alles aus Rom entscheide­n.“Am Sonntag kündigte der Papst an, das Erdbebenge­biet zu besuchen. (dpa)

»Seite 2 Welche politische­n Chancen das Erdbeben Italiens Ministerpr­äsident Renzi bietet, lesen Sie im Porträt.

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Foto: Massimo Percossi, dpa Zwei Männer trauern am Samstag bei den 35 Särgen von Erdbebenop­fern, die in der Sporthalle des Ortes Ascoli Piceno aufgestell­t wurden.

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