Mittelschwaebische Nachrichten
Italien trauert um die Erdbebentoten
Katastrophe In einer bewegenden Gedenkfeier nimmt das Land Abschied von den Opfern. Politiker müssen jetzt unangenehme Fragen beantworten. Und die Mafia wittert bereits Profit
Ascoli Piceno Hier ein vergilbtes Foto, dort ein Plüschtier, Spielzeug und ein Rosenkranz – die Menschen haben mitgebracht, was sie aus den Resten ihrer zerstörten Häuser noch retten konnten. Erinnerungen an jene, die noch vor wenigen Tagen lebten, Spuren von brutal aus dem Leben gerissenen Menschen. Für manche hatte es noch nicht einmal richtig begonnen, das Leben.
Die Mitbringsel liegen am Samstag auf den 35 Särgen in der Sporthalle in Ascoli Piceno in den mittelitalienischen Marken. Sie lassen erahnen, welch erschütterndes Ausmaß die Erdbebenkatastrophe für die Hinterbliebenen der mindestens 291 Toten hat. Vor allem in den Bergdörfern Amatrice und Accumoli in Latium und in Pescara del Tronto in den Marken wurden die Menschen unter Trümmerbergen begraben.
Bei brütender Hitze haben sie sich nun versammelt – Staatspräsident Sergio Mattarella, Regierungschef Matteo Renzi, Abgeordnete und Honoratioren, Geistliche und Generäle. Das Staatsfernsehen RAI überträgt live, ganz Italien verneigt sich vor den Toten in den Bergdörfern des Apennin. Vor dem improvisierten Altar mit dem noch schnell an der Wand befestigten Kruzifix, das aus einer der zerstörten Kirchen gerettet wurde, stehen ihre Särge. In vier Reihen, dazwischen sitzen oder stehen Verwandte und Freunde, reichen sich die Hände, umarmen sich. Die Überlebenden des Erdbebens trauern gemeinsam.
„Solche Katastrophen können den Menschen alles nehmen, außer den Mut des Glaubens“, sagt fast trotzig Bischof Giovanni D’Ercole aus Ascoli Piceno. Ob er die Gemeinde damit erreicht, etwa die Hinterbliebenen der kleinen Mari- die mit 20 Monaten unter dem Dach ihres eingestürzten Hauses starb? „Sie ist jetzt bei den Engeln“, hat jemand auf einen Zettel auf ihrem weißen Sarg geschrieben.
Oder die Mutter der achtjährigen Giulia. „Ciao, Mama wird dich immer lieben“, sagt die Frau, die selbst schwer verletzt wurde und auf einer Krankenliege in den „Palazzetto dello Sport“gebracht wurde. Dann drückt sie ein Foto ihrer Tochter auf ihr Gesicht. Ein Retter hat einen Brief hinterlassen: „Entschuldige Giulia, dass wir zu spät gekommen sind.“Giulia hatte während des Erdbebens ihre kleine Schwester Giorgia schützend umarmt. Die Vierjährige war nach 16 Stunden lebend aus den Trümmern ihres Kinderzimmers in Pescara del Tronto geborgen worden.
Nach der Trauerfeier begibt sich Präsident Mattarella unter die Ansol, wesenden, spricht ihnen Mut zu, versucht zu trösten. Premier Renzi steht abwartend an der Seite. Er ahnt, dass die Überlebenden jetzt Antworten von ihm erwarten, die Italien längst haben müsste.
Wie kann es sein, dass der Erdbebenschutz in den Gebäuden zwar gesetzlich gefordert, von den Behörden aber nicht durchgesetzt wird? Warum stürzte in Amatrice eine Schule ein, die gerade erst gebaut wurde?
Staatsanwaltschaften ermitteln. Auch die oberste Anti-Mafia-Behörde des Landes ist eingeschaltet. Deren Top-Staatsanwalt Franco Roberti sagt: „Der Wiederaufbau nach einem Erdbeben ist traditionell ein Leckerbissen für Kriminelle und ihre verbündeten Geschäftspartner.“Ein Skandal wie nach dem Erdbeben im süditalienischen Idriana im Jahr 1980, bei dem etwa 3000 Menschen starben und Hilfsgelder im großen Stil von Politikern veruntreut oder in die Hände der Mafia gewirtschaftet wurden, dürfe und werde sich nicht wiederholen.
Doch wo sollen die Menschen, die ihre Bleibe und ihr Hab und Gut verloren haben, nun unterkommen? Müssen sie im Herbst die bitterkalten Nächte in Zeltlagern in den Bergen verbringen? Renzi nimmt sich am Samstag viel Zeit für die Hinterbliebenen. Noch am Donnerstag hatte er seine Landsleute aufgerufen, sich um den Schutz des „Hauses Italien“zu kümmern und endlich mit der Sicherung der Wohnungen ernst zu machen. „Ihr müsst sagen, was für euch besser ist“, bittet er schließlich eine Gruppe von Hinterbliebenen. „Wir können nicht alles aus Rom entscheiden.“Am Sonntag kündigte der Papst an, das Erdbebengebiet zu besuchen. (dpa)
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