Mittelschwaebische Nachrichten
Bei Fremden ein Zuhause gefunden
Zunächst hat eine Unterallgäuer Familie nur einen psychisch kranken Erwachsenen aufgenommen – und sich dann überlegt: Eigentlich müsste man schon viel früher helfen
Unterallgäu Wäre eines von Maria Schulz (Name von der Redaktion geändert) Kindern nicht geistig und körperlich behindert, vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Aber so lernte die Tochter bei der Arbeit in einer Einrichtung für Behinderte vor 14 Jahren einen älteren psychisch kranken Mann kennen. Und weil im Haus der Familie damals gerade eine Einliegerwohnung leerstand, zog er zwei Jahre später dort ein. „Bei uns in der Familie ist von der Hochbegabung bis zur geistigen Behinderung alles dabei. Deshalb sind wir offen und nehmen jeden so an, wie er ist“, sagt Maria Schulz. Wenn sie das erzählt, klingt das alles ganz einfach.
Dass es nicht immer so einfach ist, kann man erahnen, wenn sie weitererzählt: Von den Wahnvorstellungen, bei denen sich der Mann von Nachbarn oder auch Familienmitgliedern bedroht fühlt, oder von den Tagen, an denen er das Essen verweigert, weil er fürchtet, es könnte vergiftet sein. Wenn es gar zu schlimm wird, verbringt er immer wieder mehrere Wochen im Bezirkskrankenhaus in Kaufbeuren.
Als es wieder einmal so weit war, hat es in Maria Schulz zu arbeiten begonnen. Schließlich wusste sie, dass der Mann, dessen ehrenamtliche gesetzliche Betreuerin sie inzwischen ist, in seiner Kindheit schwer traumatisiert wurde: Unter anderem hat ihm seine Mutter Kot aufs Brot geschmiert. Und Maria Schulz hat auch bemerkt, dass er sich in den Jahren bei ihnen weiterentwickelt hat. „Eigentlich müssten wir viel früher ansetzen, dann kann man noch viel retten“, hat sich die gelernte Bürokauffrau deshalb gedacht – und sich zusammen mit ihrem Mann darum beworben, einen seelisch behinderten Jugendlichen aufzunehmen.
2010 kamen dann gleich zwei Kinder zu ihnen, stark verhaltensgestörte Geschwister, damals vier und sechs Jahre alt. Und ja, auch das war nicht so einfach, wie es vielleicht klingt. „Erst mal ist man sich fremd. Das braucht Jahre, bis man sich da als Familie bildet. Das sind ja erst mal die Kinder von jemandem anderen.“Und zwar Kinder, die missbraucht und misshandelt wurden, die Türen zerkratzt, Büsche im Garten der Pflegefamilie angezündet und diese bestohlen haben, die permanent Aufsicht brauchten. „Man kann die Kinder nicht gleich lieben – und umgekehrt ist es genauso.“Inzwischen jedoch nennen sie Schulz und ihren Mann Mama und Papa und einer der schönsten Momente dürfte der gewesen sein, als eines der Kinder Maria Schulz fragte: „Warum konnte ich nicht bei dir geboren werden?“
Aber natürlich gibt es auch die anderen, in denen sie sich anhören muss, dass sie nicht die „richtige Mama“sei und ihnen gar nichts zu sagen habe. Maria Schulz hat dafür Verständnis. Sie versucht, sich in die Kinder hineinzuversetzen, und hat sich schon oft gefragt, wo sie die Kraft hernehmen, mit ihrer Vergangenheit klarzukommen. „Die haben so viele Schmerzen in sich drin und müssen trotzdem zur Schule gehen und funktionieren. Das würde man einem Erwachsenen nie zumuten“, ist sie überzeugt. „Die sind so bedürftig. Das ist, als ob man mit eiMaria nem Sieb Wasser auffängt.“Sie will den beiden Geborgenheit geben, ihnen ein normales Leben ermöglichen – auch wenn das ursprünglich so nicht geplant war. „Unser Ziel war es nicht, nochmals Eltern zu werden und zwei Kinder aufzuziehen“, gibt die 55-Jährige ganz offen zu. Sie sollten zwei bis drei Jahre in der Pflegefamilie Kraft tanken und dann wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren, doch in diesem Fall ist das nicht möglich.
Trotzdem haben diese nach wie vor das Sorgerecht: Wenn es darum geht, ob die Kinder Erstkommunion feiern oder sich Ohrringe stechen lassen dürfen, muss das abgesprochen werden. „Aber wenn es um die Haftpflichtversicherung geht oder darum, die Geschwister zweimal in der Woche zur Therapie zu fahren, dann sind das unsere Kinder“, ärgert sich Maria Schulz. Sie findet: „Wenn Eltern keine Pflichten übernehmen, sollten sie auch keine Rechte geltend machen können.“
Dennoch wäre sie bereit, noch einmal jemanden aufzunehmen. Das Haus verfügt über vier Badezimmer, vier Küchen und zehn weitere Zimmer, Platz gibt es also. „Ich bin egoistisch genug, ich habe kein Helfersyndrom“, stellt Maria Schulz klar.Aber zum einen bereichere die Betreuung das eigene Leben und zum anderen findet sie: „Ein Stück weit sind wir doch alle ein bisschen verantwortlich.“
Ums Geld gehe es ihr nicht. „Wir sind nicht dazu gezwungen und wir werden auch nicht reich damit“, betont sie. „Wir bekommen’s honoriert – bezahlen kann man das nicht.“Schließlich ist die Betreuung in der Familie kein Job wie jeder andere: Es gibt keinen Feierabend, kein Wochenende, keinen bezahlten Urlaub und später auch keine Rentenansprüche.
Die Kinder gehören zur Familie, doch Unterschiede bleiben: „Das kann man nicht vergleichen mit der Liebe zu den eigenen Kindern. Ich kann nicht sagen, dass wir sie lieben. Aber wir haben sie lieb.“
Umgekehrt erwartet sie von den Kindern weder das noch ewige Dankbarkeit. „Das wäre der falsche Weg. Man muss sie frei lassen und eine gewisse Distanz bewahren, ihnen Raum lassen. Wenn sie später keinen Kontakt mehr zu uns wollen, wollen sie das nicht.“Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Sowohl der ältere Herr als auch die Kinder wollen bleiben. Weil sie im Unterallgäu das gefunden haben, was sie bisher nicht kannten: ein Zuhause.