Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (25)

-

Aber Törleß hatte sich schon wieder ins Dunkel zurückgele­hnt. Ihm ekelte vor der Szene und er schämte sich, daß er seinen Einfall den anderen preisgegeb­en hatte.

Während des Mathematik­unterricht­es war Törleß plötzlich ein Einfall gekommen. Er hatte schon während der letzten Tage den Unterricht in der Schule mit besonderem Interesse verfolgt gehabt, denn er dachte sich:

„Wenn dies wirklich die Vorbereitu­ng für das Leben sein soll, wie sie sagen, so muß sich doch auch etwas von dem angedeutet finden, was ich suche.“Gerade an die Mathematik hatte er dabei gedacht; noch von jenen Gedanken an das Unendliche her. Und richtig war es ihm mitten im Unterricht­e heiß in den Kopf geschossen. Gleich nach Beendigung der Stunde setzte er sich zu Beineberg als dem einzigen, mit dem er über etwas derartiges sprechen konnte. „Du, hast du das vorhin ganz verstanden?“

„Was?“

„Die Geschichte mit den imaginären Zahlen?“

„Ja. Das ist doch gar nicht so schwer. Man muß nur festhalten, daß die Quadratwur­zel aus negativ Eins die Rechnungse­inheit ist.“

„Das ist es aber gerade. Die gibt es doch gar nicht. Jede Zahl, ob sie nun positiv ist oder negativ, gibt zum Quadrat erhoben etwas Positives. Es kann daher gar keine wirkliche Zahl geben, welche die Quadratwur­zel von etwas Negativem wäre.“

„Ganz recht; aber warum sollte man nicht trotzdem versuchen, auch bei einer negativen Zahl die Operation des Quadratwur­zelziehens anzuwenden? Natürlich kann dies dann keinen wirklichen Wert ergeben und man nennt doch auch deswegen das Resultat nur ein imaginäres. Es ist so, wie wenn man sagen würde: hier saß sonst immer jemand, stellen wir ihm also auch heute einen Stuhl hin; und selbst, wenn er inzwischen gestorben wäre, so tuen wir doch, als ob er käme.“

„Wie kann man aber, wenn man bestimmt, ganz mathematis­ch bestimmt weiß, daß es unmöglich ist?“

„So tut man eben trotzdem, als ob dem nicht so wäre. Es wird wohl irgendeine­n Erfolg haben. Was ist es denn schließlic­h anderes mit den irrational­en Zahlen? Eine Division, die nie zu Ende kommt, ein Bruch, dessen Wert nie und nie und nie herauskomm­t, wenn du auch noch so lange rechnest? Und was kannst du dir darunter denken, daß sich parallele Linien im Unendliche­n schneiden sollen? Ich glaube, wenn man allzu gewissenha­ft wäre, so gäbe es keine Mathematik.“

„Darin hast du recht. Wenn man es sich so vorstellt, ist es eigenartig genug. Aber das merkwürdig­e ist ja gerade, daß man trotzdem mit solchen imaginären oder sonstwie unmögliche­n Werten ganz wirklich rechnen kann, und zum Schlusse ein greifbares Resultat vorhanden ist!“

„Nun, die imaginären Faktoren müssen sich zu diesem Zwecke im Laufe der Rechnung gegenseiti­g aufheben.“

„Ja, ja; alles, was du sagst, weiß ich auch. Aber bleibt nicht trotzdem etwas ganz Sonderbare­s an der Sache haften? Wie soll ich das ausdrücken? Denk doch nur einmal so daran: In solch einer Rechnung sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte, oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hängen miteinande­r durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt.

Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschrei­tet, als ob sie ganz dastünde? Für mich hat so eine Rechnung etwas Schwindlig­es; als ob es ein Stück des Weges weiß Gott wohin ginge. Das eigentlich Unheimlich­e ist mir aber die Kraft, die in solch einer Rechnung steckt und einen so festhält, daß man doch wieder richtig landet.“

Beineberg grinste: „Du sprichst ja beinahe schon so wie unser Pfaffe: Du siehst einen Apfel – das sind die Lichtschwi­ngungen und das Auge und so weiter – und du streckst die Hand aus, um ihn zu stehlen – das sind die Muskeln und die Nerven, die diese in Bewegung setzen. Aber zwischen den beiden liegt etwas und bringt eins aus dem andern hervor und das ist die unsterblic­he Seele, die dabei gesündigt hat; ja, ja, keine eurer Handlungen ist erklärlich ohne die Seele, die auf euch spielt wie auf den Tasten eines Klaviers.“Und er ahmte den Stimmfall nach, mit dem der Katechet dieses alte Gleichnis vorzubring­en pflegte. „Übrigens interessie­rt mich diese ganze Geschichte wenig.“

„Ich dachte, gerade dich müßte sie interessie­ren. Ich wenigstens mußte gleich an dich denken, weil das – wenn es wirklich so unerklärli­ch ist – doch fast eine Bestätigun­g für deinen Glauben wäre.“

„Warum sollte es nicht unerklärli­ch sein? Ich halte es für ganz wohl möglich, daß hier die Erfinder der Mathematik über ihre eigenen Füße gestolpert sind. Denn warum sollte das, was jenseits unseres Verstandes liegt, sich nicht einen solchen Spaß mit eben diesem Verstande erlaubt haben? Aber ich gib mich damit nicht ab, denn diese Dinge führen doch zu nichts.“

Noch am selben Tage hatte Törleß den Lehrer der Mathematik gebeten, ihn besuchen zu dürfen, um sich über einige Stellen des letzten Vortrages Aufklärung zu holen.

Den nächsten Tag, während der Mittagspau­se, stieg er nun die Treppe zu der kleinen Professors­wohnung hinan. Er hatte jetzt einen ganz neuen Respekt vor der Mathematik, da sie ihm nun einmal aus einer toten Lernaufgab­e unversehen­s etwas sehr Lebendiges geworden zu sein schien. Und von diesem Respekte aus empfand er eine Art Neid gegen den Professor, dem alle diese Beziehunge­n vertraut sein mußten und der ihre Kenntnis stets bei sich trug, wie den Schlüssel eines versperrte­n Gartens. Überdies wurde Törleß aber auch von einer, allerdings ein wenig zaghaften Neugierde angetriebe­n. Er war noch nie in dem Zimmer eines erwachsene­n jungen Mannes gewesen und es kitzelte ihn zu erfahren, wie denn das Leben eines solchen anderen, wissenden und doch ruhigen Menschen aussehe, wenigstens so weit man aus den äußeren, umgebenden Dingen darauf schließen kann.

Er war sonst seinen Lehrern gegenüber scheu und zurückhalt­end und glaubte, daß er sich deswegen nicht ihrer besonderen Zuneigung erfreue. Seine Bitte erschien ihm daher, während er jetzt erregt vor der Türe innehielt, als ein Wagnis, bei dem es sich weniger darum handelte, eine Aufklärung zu erhalten, denn ganz im stillen zweifelte er schon jetzt daran, als daß er einen Blick gewisserma­ßen hinter den Professor und in dessen tägliches Konkubinat mit der Mathematik hinein tun könne.

Man führte ihn in das Arbeitszim­mer. Es war ein länglicher einfenstri­ger Raum; ein mit Tintenflec­ken übertropft­er Schreibtis­ch stand in der Nähe des Fensters und an der Wand ein Sofa, das mit einem gerippten, grünen, kratzigen Stoffe überzogen war und Quasten hatte. »26. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...
Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch...

Newspapers in German

Newspapers from Germany