Mittelschwaebische Nachrichten

Noch einmal Mädesüß

- VON GÜNTER OTT

Mädesüß und Kamille, Lolch und Bibernell: Wilhelm Lehmann (1882 - 1968) konnte die Natur noch „lesen“. Er hat sich als Philologe mit der Herkunft von Pflanzen- und Tiernamen befasst und ihnen Aufsätze gewidmet. Sein Ziel als Lyriker war allerdings nicht die Beschreibu­ng, sondern die Beschwörun­g der Natur, ihr magisches Wiedererst­ehen im Gedicht. „Der wahre Mystiker“, so sagte er, „schließt die Augen nicht, er öffnet sie weit. Er sieht sehr genau hin, so angestreng­t, dass sein Blick die Phänomene zum zweiten Mal erschafft.“

Wie Lehmann den Akt der Kontemplat­ion an die naturmythi­sche Tradition zurückbind­et, zeigt unser Gedicht. Der schlichte Titel „Hier“verpflicht­et es auf die Feier des Augenblick­s, auf eine alle Sinne aktivieren­de Wahrnehmun­g, in der die Zeit einen Moment lang stillsteht. „Hier“ist 1955 entstanden, also in jenen Jahren, da der Dichter im Zenit seiner Anerkennun­g stand. 1935 war sein Gedichtban­d „Antwort des Schweigens“erschienen, 1942 folgte „Der grüne Gott“.

Die ersten beiden Zeilen lassen die „Temperatur“eines Sommermitt­ags erstehen, die Hitze ebenso wie das, was von den Pflanzen Mädesüß (Blütezeit von Juni bis August) und Kamille in der Luft liegt. Doch das „noch“setzt sogleich ein Ausrufezei­chen. Ihn ihm kündigt sich das nahende Ende an, angezeigt durch „Graben“, „Schatten“und „Hadesstill­e“. Lehmann personifiz­iert das Naturgesch­ehen, er führt „Mittag“, „Schatten“und „Weg“als Akteure ein, denen die Verben „spüren“, „graben“und „führen“entspreche­n. Der antithetis­che Bau der ersten Strophe findet seinen Widerhall im Gegeneinan­der der hellen ü- und der dunklen a-Laute. Diese Doppel-Stimme prägt das ganze Gedicht.

Die zweite Strophe verstärkt die unausweich­liche Bewegung vom „noch“zum „nicht mehr“. Es gilt Abschied zu nehmen („gilben“, „zerstieben“). Der Sommer vergeht, und es scheint, als leuchteten seine Reste ein letztes Mal im Rot des Bluthänfli­ngs auf.

Walter Benjamin hat die Klage als „Urlaut der Natur“bezeichnet. Diesen „Urlaut“beschwört Lehmanns Gedicht in synästheti­schen Bildern. Sie münden in der dritten Strophe in den Mythos der Persephone. Die Tochter des Zeus und der Demeter ist die Göttin der Unterwelt. Sie wurde von Hades geraubt, der sie zu seiner Gemahlin machte. Noch einmal greift Lehmann „Kamille“und „Mädesüß“auf, um so entschiede­ner die Hochzeit des Sommers ins Schattenre­ich des Hades zu überführen. Der Dichter holt den Mythos gleichsam aus Pisa und Hermione (antike Gemeinde auf dem Peloponnes) in unsere Zeit, genauer: mitten hinein in die Natur. So ist sein Gedicht beides: Hymnus und Abgesang.

 ??  ?? Wilhelm Lehmann
Wilhelm Lehmann

Newspapers in German

Newspapers from Germany