Mittelschwaebische Nachrichten

Gemeinsam einsam

Alle paar Monate verlässt Nadia Kowalski ihr Dorf in Polen, um eine deutsche Rentnerin zu pflegen. Über ein Leben zwischen Zierdecken und Schnabelta­ssen, mageren Zahltagen und der Sehnsucht nach der Heimat

- VON DANIELA GASSMANN

Augsburg Nadia Kowalskis Welt endet an einer Hecke. Nur einmal am Tag schafft sie es dorthin. Sonst bleibt sie im Haus, zwischen Zierdecken und Schnabelta­ssen. Entstaubt Bücher, von denen sie nur wenige Worte versteht. Wischt über Bilder fremder Menschen. Wenn sie könnte, würde sie das alles hinter sich lassen und in den Wald laufen. Draußen sein, im Grünen, das mag sie von allen Dingen am liebsten. Doch als Pflegekraf­t ist sie an eine 89-Jährige gebunden, die nur noch bis in den Garten gehen kann. Nur dienstags lässt Kowalski sie zurück, eine halbe Stunde lang. Dann geht sie durch das Tor neben der Hecke, um im Dorf einzukaufe­n.

Mit rundem Rücken beugt Kowalski sich über die gelben, wuchernden Blumen. Es ist Sonntag, könnte aber genauso gut Mittwoch, Freitag oder irgendein anderer Wochentag sein. „Immer um 11 Uhr muss ich gießen“, sagt Kowalski. Manchmal trödelt sie dabei, um noch etwas frische Luft abzubekomm­en und über die Hecke zu gucken. Zu sehen ist nur die Rückseite des Nachbarhau­ses und der Weg, der andere Leute in den Wald führt. Aber nicht Kowalski.

1200 Kilometer musste sie fahren, um in die bedrückend kleine Welt zu gelangen. In einem polnischen Dorf östlich von Krakau verabschie­dete sich die 43-Jährige von ihrer jüngsten Tochter. Spätnachmi­ttags stieg sie mit zwei Reisetasch­en in den Fiat eines Bekannten. Als sich die einzige Straße im Ort gabelte, versuchte sie, nicht zu weinen. Sie wusste: Sobald sie am nächsten Morgen vor dem gelben Haus im Schwarzwal­d aussteigt, würde ihr Leben für zwei Monate anhalten.

Die Namen der Orte will Kowalski nicht in der Zeitung lesen, auch ihr eigener musste geändert werden. Die Seniorin Leni Aberle, die ebenfalls anders heißt, beschäftig­t sie schwarz. Die alte Frau kann sich nur mithilfe der jungen waschen, anzie- hen und zur Toilette gehen. Die junge Frau kann nur mithilfe der alten ihre Rechnungen zahlen. Jeden Freitag bekommt Kowalski 250 Euro bar auf die Hand. Da sie pausenlos arbeitet, wenn sie nicht gerade schläft, sind das umgerechne­t 2,32 Euro pro Stunde – ein Bruchteil des Mindestloh­ns. Dazu kommen die Nächte: „Kowalski!“Jedes Mal, wenn die Seniorin ihren Namen ruft, muss Kowalski aufstehen.

Das Messer kratzt auf dem falschen Porzellan. Die Pflegerin vermischt Kartoffels­alat, Spätzle, Hähnchen und braune Soße. Das Mittagesse­n hat sie selbst gekocht. Über dem Tisch hängt der Abfallkale­nder, an dem sie die Tage bis zur Heimreise abzählt: noch 49 Mal schlafen. Leni Aberle sitzt gegenüber und lässt sich füttern. „Frau Leni“nennt Kowalski die Seniorin.

Für Make-up hat die Pflegerin keine Zeit und kein Geld. „Aber ohne Haarefärbe­n kann ich nicht.“Beim Sprechen stößt sie mit der Zunge an die Zähne, ihr gebrochene­s Deutsch ist kaum zu verstehen. Aberle, die stundenlan­g von ihren Gebrechen erzählen kann, kaut stumm. Die Stille von zwei Menschen ist quälender als die eines einzigen. Heute wird Aberle kein einziges Mal „Danke“sagen, Kowalski kein einziges Mal „Nein“.

Bei ihrer Ankunft vor zwei Jahren kannte Kowalski nur Begrüßungs­formeln und das Wort „Kartoffeln“auf Deutsch. Als sie an einem ihrer ersten Abende welche kochte, sagte Aberle: „Die kannst du gleich wieder wegbringen. So was esse ich nicht.“Kowalski gehorchte. Inzwischen kann sie alle deutschen Gerichte zubereiten und stellt Fragen wie: „Bissle Spätzle, Frau Leni?“

Viele Osteuropäe­rinnen kommen als Pflegekräf­te nach Deutschlan­d, ohne die Sprache zu beherrsche­n. Sie verlassen ihr Zuhause, damit alte Menschen ihres nicht gegen Heime eintausche­n müssen. Und weil sie zu Hause keinen Job finden. Die Vermittlun­gen tragen Namen wie „Hausengel“, „Polnische Pflegekräf­te“und „Perfekton“. Zwischen 1500 und 2000 Euro verlangen sie im Monat für die Rundum-Betreuung. Etwa ein Viertel davon behalten die Agenturen. Indem sie ihre Mitarbeite­rinnen in Polen anstellen, umgehen sie den Mindestloh­n.

Wie Aberle beschäftig­en viele Familien die Pflegerinn­en trotzdem illegal. Das ist günstiger. Die Frauen arbeiten 24 Stunden am Tag – ohne einen freien Tag, ohne einen Abend für sich. Sie sind Köchinnen, Putzfrauen, Familiener­satz – und oft ein Ventil für den Frust der alten Menschen. Alle paar Wochen wechseln sie sich mit einer zweiten Pflegerin ab. So wie Kowalski, die alle zwei Monate nach Hause fährt.

Die Trennung von ihren drei Kindern muss die alleinerzi­ehende Mutter in Kauf nehmen. Sie hat keine Ausbildung und keinen Anspruch auf Unterhalt. Im polnischen Familienre­cht ist die „Schuld an der Zerrüttung der Ehe“maßgeblich dafür, ob ein Partner den anderen nach der Scheidung unterstütz­en muss. In Kowalskis Fall entschied das Gericht, dass ihr Mann die Verantwort­ung nicht allein trägt. Auch, wenn er gegangen ist. Nach der Scheidung konnte Kowalski weder den Strom zahlen noch die Schule für die 18-jährige Tochter. Im Winter ging der Ofen kaputt. Sie schliefen bei minus drei Grad.

Auf dem Grundstück im Schwarzwal­d dagegen gibt es keine Jahreszeit­en. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter trägt Kowalski kurzärmeli­g. Putzen ist anstrengen­d, und die Heizung im Haus immer aufgedreht.

Nach dem Abwasch faltet Kowalski das Geschirrtu­ch dreimal, deckt mit einem zweiten den Herd ab. Dann sieht sie im Wohnzimmer nach Aberle. In ihrer Bügelfalte­nhose sitzt die Seniorin in dem grauen Sessel. Für beide Frauen ist er der Mittelpunk­t ihrer gemeinsame­n Welt. Weil sie sonst nichts tun kann, erteilt Aberle von hier aus Befehle: „Kartoffels­alat machen!“, „Boden wischen!“, „Nicht so viel Wasser!“

Früher bestand Aberles Leben ebenfalls aus diesen Arbeiten. Vier Kinder zog sie groß, putzte nebenher. Später pflegte sie ihren asthmakran­ken Mann, so wie sie heute von Kowalski gepflegt wird. Einmal war sie so erschöpft, dass sie sich während des Kochens auf den Boden legte und einschlief. Vor 14 Jahren wurde sie Witwe. Dabei wollte sie immer nur, dass alles bleibt, wie sie es gewohnt war. Sie sei eben schwierig, sagen die Söhne. Und das werde sich nicht mehr ändern.

Wenn sie nicht vor zwei Jahren gestürzt wäre, könnte Aberle noch immer allein leben. Mit einem Oberschenk­elhalsbruc­h kam sie damals ins Krankenhau­s. Seither kann sie kaum noch gehen. Doch ins Altenheim wollte sie nicht. Einer ihrer Söhne organisier­te zwei Pflegerinn­en. „Es hieß: Du bekommst jetzt eine Polenfrau“, erzählt Aberle. „Oh Jesses Gott, dachte ich. Da verstehe ich ja gar nix.“Aber sie hatte keine Wahl. Vor kurzem ist sie noch dazu vom Stuhl gefallen und hat sich die rechte Hand gebrochen. Die zweite Pflegerin stand wenige Meter hinter ihr. Seitdem kann Aberle nicht einmal mehr selbst essen.

Wenn die 89-Jährige von der zweiten Pflegerin spricht, sagt sie noch immer „die andere Frau“. Aber an Kowalski hat sie sich gewöhnt. Kommen ihre Söhne zu Besuch, beendet sie fast jede Erzählung mit „Gell, Nadia?“Manchmal isst sie sogar deren polnische Maultasche­n. Im Haus und Garten hat sich hingegen nichts verändert. Die Hecke ist so akkurat geschnitte­n wie früher, das Beet blüht gelb. Und in dem Zimmer am Ende des Flurs deutet nur ein Fläschen Nagellack darauf hin, dass Kowalski hier schläft. Das schmale Bett ist gemacht, ein massiver Schrank nimmt den dunklen Raum ein. „Der gehört Frau Leni“, sagt Kowalski. Ihre eigenen Sachen liegen in einem Stoffregal hinter der Tür.

Aberles Söhne beteuern, Kowalski und ihre Kollegin illegal anzustelle­n, weil es ihnen so besser gehe. „Wir haben Bekannte, die eine Polin über eine Agentur haben. Was da abgezogen wird, da wird einem schlecht.“Einmal in der Woche heben sie Geld von Leni Aberles Konto ab und bringen es ihr vorbei. Die Seniorin versteht nicht, wie schlecht sie Kowalski entlohnt. Wie wenig 250 Euro pro Woche für eine Mutter sind, die die Schule der Tochter, Miete und Strom bezahlen muss: „Die Nadia, die kann ja von ihrem Geld kaufen, was sie will. Aber meistens kauft sie sich nichts. Ich bekomme ja selbst nur 100 Euro Rente.“Pflegegeld beziehe sie nicht, sagt Aberle. Dabei stünde einem Menschen mit ihren Einschränk­ungen der höchstmögl­iche Betrag zu: 728 Euro im Monat.

Ob Kowalski manchmal wütend ist, weil sie für so wenig Geld so hart arbeiten muss? Ob es vorkommt, dass sie den Putzlappen in die Ecke schleudern möchte? Dass sie Aberle anschreien will? Kowalski sagt, was sie sonst nie sagt: „Nein.“Frau Leni sei alt und krank. Niemals würde sie deshalb etwas Schlechtes über ihre Chefin denken. „Aber mein Wunsch ist, ich kann in Polen leben und mein Brot verdienen.“

Nach dem Abendessen hat Aberle die Schiene für die gebrochene Hand abgelegt. Ein blassrosa Strich läuft ihren Arm hinauf. Er zittert. Kowalski verteilt Creme auf der Stelle, in langsamen Bewegungen. Die alte Frau beginnt zu weinen. „Ich bin jetzt seit 2014 nicht mehr unter Leuten“, sagt sie. „Nix kann ich selbst machen. Grad mal mein Gebiss krieg ich noch raus.“Kowalski streicht ihr über den Arm: „Frau Leni, nicht weinen! Frau Leni, fröhlich sein.“Die Tränen laufen weiter.

Das gelbe Haus ist auch für Aberle ein Gefängnis. Es schmerzt sie umso mehr, weil ihr altes Leben nur wenige Meter entfernt liegt. Bis zum Rathaus, in dem sie putzte, sind es nicht einmal 50 Schritte. Die Wirtschaft mit dem besten Sonntagsbr­aten liegt die Straße hoch, am Waldrand. Für die 89-Jährige eine unüberwind­bare Entfernung. Auch Kowalski vermisst den Wald. Daheim, in Polen, geht sie täglich spazieren,

Es ist Sonntag. Es könnte aber jeder andere Tag sein Jeden Freitag bekommt sie 250 Euro, bar auf die Hand

oft mit ihrer Tochter. Jeden Abend schreibt sie ihr: „Wie ist die Schule?“, „Das Wetter?“, „Ich vermisse dich.“

An diesem Sonntag sitzt sie mit ihrem Tablet am Rand des Sofas. Bloß nicht zu weit weg von Aberle, die im Sessel Tatort guckt. Die Füße legt Kowalski nicht hoch, die Kissen lässt sie unberührt. So ist es leichter aufzustehe­n, um die Schnabelta­sse mit Früchtetee zu füllen oder Tabletten zu zerkleiner­n. Auf Facebook teilt sie ein Video aus ihrem Heimatdorf. „So kann ich bei euch sein“, schreibt sie auf Polnisch darunter.

Bis sie wirklich daheim sein wird, müssen 48 weitere einsame Tage vergehen. Dann wird der Fiat ihres Bekannten vor dem gelben Haus parken. Kowalski wird zur Hecke gehen und dann durch das Tor. Sie wird einsteigen, ohne sich umzusehen. Nach zehn oder elf Stunden Autofahrt werden die Felder vorbeizieh­en, die nach Heimat riechen. Die beiden Straßen des Ortes werden zusammenla­ufen, und Kowalski wird endlich das Gefühl haben, gleich zu Hause zu sein.

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Foto: Jens Kalaene, dpa Sie arbeiten rund um die Uhr, oft für wenig Geld und ohne Versicheru­ng: Tausende Polinnen pflegen in deutschen Haushalten Senioren.

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