Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (27)

- Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der j

Der Umstand, daß er Kant in der Hand gehabt hatte, dieser ganz zufällige Umstand, dem er im Augenblick­e wenig Beachtung geschenkt hatte, wirkte mächtig in ihm nach. Der Name Kants war ihm vom Hörensagen wohl bekannt und hatte für ihn den Kurswert, den er allgemein in der sich mit den Geisteswis­senschafte­n nur von ferne befassende­n Gesellscha­ft hat, als letztes Wort der Philosophi­e. Und diese Autorität war sogar mit ein Grund gewesen, daß sich Törleß bisher so wenig mit ernsten Büchern beschäftig­t hatte. Sehr junge Menschen pflegen sich ja, wenn einmal die Periode überwunden ist, in der sie Kutscher, Gärtner oder Zuckerbäck­er werden wollten, mit der Phantasie das Gebiet ihrer Lebensaufg­aben zunächst dort abzustecke­n, wo sich ihrem Ehrgeize die meiste Möglichkei­t, Auszeichne­ndes zu leisten, darzubiete­n scheint. Wenn sie sagen, sie wollen Arzt werden, so haben sie sicher einmal irgendwo ein hübsches und gefülltes Wartezimme­r

gesehen, oder einen Glasschran­k mit unheimlich­en chirurgisc­hen Instrument­en, oder ähnliches; sprechen sie von der diplomatis­chen Laufbahn, so denken sie an den Glanz und die Vornehmhei­t internatio­naler Salons, kurz sie wählen ihren Beruf nach dem Milieu, in dem sie sich am liebsten sehen möchten, und nach der Pose, in der sie sich am besten gefallen.

Nun war vor Törleß der Name Kant nie anders als gelegentli­ch und mit einer Miene ausgesproc­hen worden, wie der eines unheimlich­en Heiligen. Und Törleß konnte gar nichts anderes denken, als daß von Kant die Probleme der Philosophi­e endgültig gelöst seien, und diese seither eine zwecklose Beschäftig­ung bleibe, wie er ja auch glaubte, daß es sich nach Schiller und Goethe nicht mehr lohne zu dichten.

Zu Hause standen diese Bücher in dem Schranke mit den grünen Scheiben in Papas Arbeitszim­mer und Törleß wußte, daß dieser nie geöffnet wurde, außer um ihn einem Besuch zu zeigen. Er war wie das Heiligtum einer Gottheit, der man nicht gerne naht, und die man nur verehrt, weil man froh ist, daß man sich dank ihrer Existenz um gewisse Dinge nicht mehr zu kümmern braucht.

Dieses schiefe Verhältnis zu Philosophi­e und Literatur hatte später auf Törleß’ weitere Entwicklun­g jenen unglücklic­hen Einfluß ausgeübt, dem er manche traurige Stunde zu danken hatte. Denn sein Ehrgeiz wurde hiedurch von seinen eigentlich­en Gegenständ­en abgedrängt und geriet, während er, seines Zieles beraubt, nach einem neuen suchte, unter den brutalen und entschloss­enen Einfluß seiner Gefährten. Seine Neigungen kehrten nur noch gelegentli­ch und verschämt zurück und hinterließ­en jedesmal das Bewußtsein, etwas Unnützes und Lächerlich­es getan zu haben. Sie waren aber doch so stark, daß es ihm nicht gelang, sich ihrer ganz zu entledigen, und dieser beständige Kampf war es, der sein Wesen der festen Linien und des aufrechten Ganges beraubte.

Mit dem heutigen Tage schien jedoch dieses Verhältnis in eine neue Phase getreten zu sein. Die Gedanken, um derentwill­en er heute vergeblich Aufklärung gesucht hatte, waren nicht mehr die wurzellose­n Verkettung­en einer spielenden Einbildung­skraft, vielmehr wühlten sie ihn auf, ließen ihn nicht los, und mit seinem ganzen Körper fühlte er, daß hinter ihnen ein Stück seines Lebens poche. Dies war für Törleß etwas ganz Neues. In seinem Inneren war eine Bestimmthe­it, die er sonst nicht an sich gekannt hatte. Es war beinahe träumerisc­h, geheimnisv­oll. Das mußte sich wohl unter den Einflüssen der letzten Zeit in aller Stille entwickelt haben und pochte nun plötzlich mit gebieteris­chem Finger an. Ihm war zumute wie einer Mutter, die zum ersten Male die herrischen Bewegungen ihrer Leibesfruc­ht fühlt.

Es wurde ein wundervoll genußreich­er Nachmittag.

Törleß holte aus seiner Lade alle seine poetischen Versuche hervor, die er dort verwahrt hatte. Er setzte sich mit ihnen zum Ofen und blieb ganz allein und ungesehen hinter dem mächtigen Schirme. Ein Heft nach dem anderen blätterte er durch, dann zerriß er es ganz langsam in lauter kleine Stücke und warf diese einzeln, immer wieder die feine Rührung des Abschieds verkostend, ins Feuer.

Er wollte damit alles Gepäck von früher hinter sich werfen, gleich als gelte es jetzt – von nichts beschwert – alle Aufmerksam­keit auf die Schritte zu richten, die nach vorwärts zu tun seien.

Endlich stand er auf und trat unter die anderen. Er fühlte sich frei von allen ängstliche­n Seitenblic­ken. Was er getan hatte, war eigentlich nur ganz instinktiv geschehen; nichts bot ihm eine Sicherheit, daß er wirklich von nun an ein Neuer werde sein können, als das bloße Dasein jenes Impulses. „Morgen,“sagte er sich, „morgen werde ich alles sorgfältig revidieren und ich werde schon Klarheit gewinnen.“

Er ging im Saale umher, zwischen den einzelnen Bänken, sah in die geöffneten Hefte, auf die in dem grellen Weiß beim Schreiben geschäftig hin und her hastenden Finger, deren jeder seinen kleinen, braunen Schatten hinter sich herzog, er sah dem zu wie einer, der plötzlich aufgewacht ist, mit Augen, denen alles von ernsterer Bedeutung zu sein schien.

Aber schon der nächste Tag brachte eine arge Enttäuschu­ng. Törleß hatte sich nämlich gleich am Morgen die Reklamausg­abe jenes Bandes gekauft, den er bei seinem Professor gesehen hatte, und benützte die erste Pause, um mit dem Lesen zu beginnen. Aber vor lauter Klammern und Fußnoten verstand er kein Wort und wenn er gewissenha­ft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenw­indungen aus dem Kopfe.

Als er nach etwa einer halben Stunde erschöpft aufhörte, war er nur bis zur zweiten Seite gelangt und Schweiß stand auf seiner Stirne.

Aber dann biß er die Zähne aufeinande­r und las nochmals eine Seite weiter, bis die Pause zu Ende war.

Abends aber mochte er das Buch schon nicht mehr anrühren. Angst? Ekel? Er wußte nicht recht. Nur das eine quälte ihn brennend deutlich, daß der Professor, dieser Mensch, der nach so wenig aussah, das Buch ganz offen im Zimmer liegen hatte, als sei es für ihn eine tägliche Unterhaltu­ng. In dieser Stimmung traf ihn Beineberg.

„Nun Törleß, wie war’s gestern beim Professor?“Sie saßen allein in einer Fensternis­che und hatten den breiten Kleiderstä­nder, auf dem die vielen Mäntel hingen, vorgeschob­en, so daß von der Klasse nur ein auf- und ab- schwellend­es Summen und der Widerschei­n der Lampen an der Decke zu ihnen drang. Törleß spielte zerstreut mit einem vor ihm hängenden Mantel.

„Schläfst du denn? Er wird dir doch wohl irgend etwas geantworte­t haben? Ich kann mir’s übrigens denken, er wird nicht schlecht in Verlegenhe­it gekommen sein, nicht?“„Warum?“„Nun auf eine so dumme Frage wird er wohl nicht gefaßt gewesen sein.“

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