Mittelschwaebische Nachrichten
Der tragische Held von Lesbos
Warum ein griechischer Fischer für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird
Skala Sikamineas „Das wird ein guter Abend“, sagt Stratis Valiamos. Der Fischer schaut prüfend in den klaren Himmel über Lesbos und dann auf die ruhige Wasseroberfläche, auf der die letzten Sonnenstrahlen tanzen. Ein wenig wirkt er wie ein Cowboy, der seine Lederboots gegen Gummistiefel und den Zahnstocher gegen einen Strohhalm eingetauscht hat, auf dem er unablässig kaut. Erst zwei Mal in seinem Leben hat Valiamos die Insel verlassen, um Verwandte in Thessaloniki zu besuchen. „Das war nichts für mich. Das hier ist mein Zuhause“, sagt der 40-Jährige, steuert sein kleines weißes Motorboot aus dem Hafen von Skala Sikamineas und grüßt einen älteren Kollegen, der tief gebeugt auf der Mole hockt und ein Netz repariert.
Der Motor dreht auf und das Boot wühlt sich schäumend in Richtung Norden, wo die türkische Küste zum Greifen nah wirkt. Gerade einmal sieben Kilometer sind es bis dorthin. Auf halber Strecke stellt Valiamos den Motor ab. „Vielleicht sind wir schon in Asien, aber das ist den Kalamaris egal“, sagt er und lacht schelmisch. Er zeigt auf sein Echolot, auf dem viele kleine Zeichen darauf deuten, dass sich hier ein Fischschwarm aufhält – die Nahrungsquelle der Tintenfische, auf die der Fischer es abgesehen hat.
Beim Auswerfen der Fangleinen deutet Valiamos auf einen Punkt im Meer, etwa 30 Meter entfernt, als gäbe ob es dort einen Fixpunkt. „Da ist im Oktober ein Boot mit rund 30 Leuten gekentert. Wir haben alle rausgeholt. Die meisten stammten aus Eritrea und konnten nicht schwimmen.“Und er fügt, als müsste er sich erklären, hinzu: „Im Winter bläst der Wind und die Wellen sind viel höher.“Später zeigt er auf ein anderes Fischerboot in etwa 500 Metern Entfernung. „Da hinten sind im letzten Sommer zwei große Schlauchboote voller Frauen und Kinder gesunken. Das ganze Wasser war voller Babys und Kleinkinder. Davon träume ich heute noch.“
Dann reißt eine der Fangleinen mit den Plastikködern und Valiamos gehen wieder seine eigenen Nöte durch den Kopf: „Das sind immer ein paar Euro. Das können wir uns im Moment nicht leisten“, sagt er und zündet sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. Valiamos, der zusammen mit einem Kollegen und einer älteren Frau aus dem Nachbardorf für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, stellvertretend für die Bewohner der Insel, fürchtet um seine Existenz.
Denn da ist nicht nur die Fischerei, die immer weniger abwirft. Valiamos’ Familie betreibt ein Restaurant gleich am Hafenbecken von Skala Sikamineas. Seitdem die Meldungen von Flüchtlingsbooten und hunderten von Toten um die Welt gingen, bleiben die Stühle leer. Nur ein paar Helfer kehren am Abend bei Valiamos ein. Sie versorgen keine ausgekühlten Flüchtlinge mehr, sondern befreien vor allem den Strand von kaputten Schlauchbooten und Schwimmwesten, die keiner hier sehen soll. Valiamos sagt: „Wir beschäftigen in der Saison sonst sieben Kellner. In diesem Jahr reicht das Geld nicht einmal für uns.“Und fügt nicht ohne Verbitterung hinzu: „Wenn die Touristen nicht bald wiederkommen, müssten wir das Restaurant verkaufen. Was nützt uns dann der Friedensnobelpreis?“
Ähnlich ergeht es Stelios Poulos, der in Petra im Norden von Lesbos ein Restaurant betreibt und Zimmer vermietet. Mittags um eins sitzt er allein auf der Terrasse, zwischen dutzenden leeren Tischen, raucht und schaut hinaus aufs Meer. „Hier in Petra sind nie Flüchtlinge angekommen. Trotzdem bleiben die Gäste aus“, sagt der Gastronom. Er will, dass die Gäste aus Mitteleuropa wiederkommen: „Nie war es günstiger als jetzt. Und seine Ruhe hat man in jedem Fall auch.“
Drei Viertel der gut 85000 Mener schen auf der Insel leben direkt oder indirekt vom Tourismus. Laut der Fremdenverkehrsbehörde drohen der Branche in dieser Saison 20 Millionen Euro Verlust. Am Flughafen der Insel sind zwischen März und August dieses Jahres gerade einmal 17 000 Touristen gelandet – zwei Drittel weniger als im Vorjahr. Periklis Antoniou, Präsident des Hotelierverbands der Insel, sagt: „Früher landeten hier täglich 23 Flugzeuge, heute sind es sieben.“Und allein im Mai wurden 90 Prozent weniger Zimmer gebucht als noch im Vorjahr. „Trotz einiger Kurzentschlossener, die die günstigen Preise nutzen, kann von einer Entspannung keine Rede sein.“Antoniou fordert Unterstützung von der EU und vom griechischen Staat: „Wir haben monatelang geholfen. Jetzt brauchen wir Hilfe.“
Doch die scheint nicht zu kommen. Stattdessen steigt der Druck. Vergangenen Sommer hat die Regierung in Athen die Mehrwertsteuer für die meisten Produkte und Dienstleistungen von 13 auf 23 Prozent angehoben. Im Juli wurden Lebensmittel und Getränke nochmals verteuert, was das Gastgewerbe besonders trifft. Zusätzlich soll ab 2018 in ganz Griechenland eine zusätzliche Gebühr zwischen zwei und vier Euro pro Übernachtung fällig werden.
Und die Situation in den Flüchtlingslagern der Insel ist nach wie vor verheerend. Nach Angaben des Flüchtlingskrisenstabs halten sich derzeit knapp 60000 Migranten in den griechischen Lagern auf, allein rund 12200 auf den Hotspots der ägäischen Inseln. Dabei können die Lager auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos eigentlich nur 7450 Menschen aufnehmen. Auf Lesbos mussten am Mittwoch hunderte Flüchtlinge im Freien ausharren. Viele hoffen, trotz der Schließung der Balkanroute irgendwie nach
„Das Wasser war voller Babys und Kleinkinder. Davon träume ich heute noch.“ Fischer Stratis Valiamos „Wir haben monatelang geholfen. Jetzt brauchen wir Hilfe.“ Hotelier Periklis Antoniou
Mitteleuropa zu kommen. Eine Chance darauf haben theoretisch nur diejenigen, die das Recht auf Familienzusammenführung in Anspruch nehmen. Nach Angaben von Pro Asyl trifft das auf 60 bis 90 Prozent zu. Doch derzeit beschäftigen sich in den griechischen Behörden nur 13 Beamte mit diesem Thema.
Auch die mit der Türkei vereinbarte Abschiebung funktioniert nicht: Von den rund 8800 Flüchtlingen, die seit April in Griechenland angekommen sind, wurden bis Anfang August nur 468 in die Türkei zurückgeschickt. Nach dem Putschversuch im Juli wurden die Rückführungen wochenlang ausgesetzt. So werden die Flüchtlinge, die mehrheitlich schon länger als ein halbes Jahr unter teils unwürdigen Umständen auf Lesbos ausharren, wahrscheinlich noch lange Gäste der Insel bleiben. Den Tourismus kurbelt das sicher nicht an.
Stratis Valiamos, dem Fischer, bleibt in dieser Situation nur eine Wahl: „Ich fahre so oft wie möglich raus und hoffe auf den großen Fang.“Er breitet lachend die Arme aus und misst in der Luft einen großen Thunfisch. Doch am Ende der Tour liegen gerade mal zwei Kalamaris, rund zehn Euro wert, in seinem weißen Plastikeimer. Valiamos lag falsch, Enttäuschung steht ihm im Gesicht: „Das war gar kein guter Abend“, sagt er. (n-ost, mit dpa)