Mittelschwaebische Nachrichten
Seit 125 Jahren
Wie der Fingerabdruck die Polizeiarbeit verändert hat
München Wer Peter Schottenheim bei der Arbeit zuschaut, der fühlt sich an die Bilderrätsel in Zeitschriften erinnert. Jene Rätsel, in denen links und rechts zwei vermeintlich gleiche Bilder zu sehen sind, die sich aber durch eine Anzahl von Fehlern unterscheiden. Nur sucht Schottenheim keine Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten. Er arbeitet beim bayerischen Landeskriminalamt (LKA) in München und ist daktyloskopischer Sachverständiger. Das heißt, er überprüft, ob ein Fingerabdruck, der an einem Tatort gefunden wurde, zu einem Verdächtigen passt.
Ein ungeübter Betrachter sieht auf Schottenheims Monitor nicht viel. Er sieht Wirbel, Schleifen, Bögen, Gabelungen und Linien, die abrupt abbrechen. Der Kriminalbeamte hat ein Programm geöffnet, das ihm links eine Spur zeigt, die die Ermittler an einem Tatort gefunden haben. Und rechts die Fingerabdrücke eines Verdächtigen. Die Beweis-Spur stammt von einem Kreditkartenbetrug. Ein Kollege hat den Fall schon bearbeitet, Schottenheim überprüft ihn, denn bei dem Abgleich gilt das VierAugen-Prinzip. Um herauszufinden, ob der Abdruck auf dem Beweisstück tatsächlich von dem Verdächtigen stammt, muss Schottenheim alle zehn Finger
Fingerabdrücke werden immer gleich unterschieden
mit der Spur vergleichen.
Vor 125 Jahren, am 1. September 1891, hat der Kroate Juan Vucetich im argentinischen La Planta zum ersten Mal Fingerabdrücke zur Verbrecherjagd verwendet. Kein Jahr später gelang es ihm so, einen Doppelmord aufzuklären. Zwei Kinder waren getötet worden. Die Mutter hatte ausgesagt, dass der Täter sie angegriffen habe. Der Nachbar der Familie wurde verdächtigt. Doch Vucetich entdeckte die Fingerabdrücke der Mutter an der Tatwaffe. Sie hatte ihre Kinder selbst ermordet, weil sie einer neuen Hochzeit im Weg waren, gestand sie später.
„Seit 125 Jahren hat sich an den Kriterien, wie wir Fingerabdrücke unterscheiden, nichts verändert“, sagt Gerold Werner. Er ist Kriminaldirektor beim LKA und unter anderem für die Daktyloskopie, also die Abteilung, in der Fingerabdrücke untersucht werden, zuständig. „Nur die Methoden, mit denen wir arbeiten, die sind anders“, sagt er. Der größte Unterschied ist die Digitalisierung. Wenn früher ein Fingerabdruck am Tatort gefunden wurde, haben Beamte ihn zum Beispiel mit Grafitpulver eingepinselt, ihn sichtbar zu machen. Dann haben sie ihn mit einer Folie abgezogen und per Post an das LKA nach München geschickt – so, wie man es aus den Fernsehkrimis kennt. Dort wird ein Großteil der Fingerabdrücke untersucht. In nur wenigen Polizeipräsidien – darunter Augsburg – arbeiten eigene Spezialisten. Allein der Postversand konnte früher schon mal eine Woche dauern. „Das Pinseln und Abziehen ist immer noch gleich. Aber jetzt werden die Spuren digitalisiert. Und wir können sie quasi sofort aufrufen“, sagt Werner. Auch das Untersuchungsum werkzeug hat sich gewandelt. Bis vor sechs Jahren benutzten die Ermittler eine Lupe, heute sitzen sie am Computer. „Hier gibt es eine Linie, die sich gabelt“, sagt Schottenheim. Mit einem Mausklick setzt er einen roten Punkt in das linke Bild, das die Spur auf dem Beweisstück zeigt. Dann schaut er das rechte Foto mit den Fingerabdrücken des Verdächtigen an und findet die Gabelung an der gleichen Stelle. Auch sie bekommt einen Punkt. Als Nächstes zählt er die Linien bis zur nächsten Stelle, die ihm auffällt. „Vier Linien vom roten Punkt nach unten endet eine Linie plötzlich“, sagt er und setzt wieder eine Markierung. Auf dem anderen Bild ist es genauso. So geht es weiter, bis er zwölf Übereinstimmungen gefunden hat. Dann steht zweifelsfrei fest, dass die Abdrücke identisch sind. Und wenn es keinen Verdächtigen gibt? Dann kommt Tobias Kaltenbach ins Spiel. Er gleicht Spuren von Tatorten mit Fingerabdrücken in einer deutschland weiten Datenbank ab.Afis heißt sie– kurz für automatisches Fingerabdrucks identifizierungs system. Die Fingerabdrücke von 3,9 Millionen Personen sind dort zurzeit gespeichert. Ganz so einfach wie im Fernseh-„Tatort“geht das aber nicht. Zunächst muss Kaltenbach den Abdruck vom Tatort markieren. Überall dort, wo eine
Das Verfahren funktioniert anders als im „Tatort“
Linie endet, macht er einen Kreis, ein Strich weist in die Richtung, in der die Linie verläuft. So versteht der Computer den Fingerabdruck und kann ihn vergleichen. Dazu überprüft er, ob es in der Datenbank einen Fingerabdruck gibt, der Kreise und Linien an ähnlichen Stellen hat. Die 15 Ähnlichsten spuckt Afis aus.
Nun muss Ermittler Kaltenbach feststellen, ob eines der Ergebnisse mit der Spur übereinstimmt. Dabei geht er genauso vor wie Schottenheim bei dem Kreditkartenbetrug. Findet er zwölf Übereinstimmungen, passt die Spur zum Fingerabdruck einer Person im Afis. Kaltenbach stellt also fest, wer der Verdächtige ist – nicht der Computer.
Das Ganze funktioniert auch umgekehrt: Wird ein Verdächtiger festgenommen, nimmt die Polizei seine Fingerabdrücke und speist sie in das System ein. Jede Nacht gleicht Afis die neuen Abdrücke mit Spuren von bisher ungelösten Fällen ab. Findet es einen Treffer, benachrichtigt es das LKA. Alleine im August haben die Beamten so 24 Fälle lösen können. „Das ist schon ein richtig gutes Gefühl“, sagt Kaltenbach.