Mittelschwaebische Nachrichten

In Massen, für Massen

Reinhard Klimmt, ehemals Bundesbaum­inister, ist auch ein Büchernarr. Nun hat er ein Monumental­werk über die Frühzeit des Taschenbuc­hs erarbeitet

- VON MICHAEL SCHREINER

Augsburg Das Werk ist in allem das Gegenteil eines Taschenbuc­hes: Zwei fadengehef­tete Leinenbänd­e im Schuber, 544 und 392 Seiten, fünf Kilo schwer, 249 Euro. Aber drunter ging es nicht für ein Standardwe­rk über die Taschenbüc­her der 1950er Jahre und ihre Gestalter, in dem tatsächlic­h 5000 Cover abgebildet sind – in Farbe. 100 Taschenbuc­hreihen im deutschspr­achigen Raum sind in dem Wälzer behandelt, manche brachten es nur auf zwei Bände, andere auf einige hundert. Kein Exemplar ist vergessen worden. „So bescheuert wird niemand mehr sein, sich an so eine Arbeit und Aufgabe heranzuwag­en“, sagt Reinhard Klimmt mit einem Lächeln im Gesicht.

Klimmt, Jahrgang 1942, Sozialdemo­krat, war 1998/99 Ministerpr­äsident des Saarlandes und ein Jahr Bundesverk­ehrsminist­er im Kabinett Gerhard Schröders. Acht Jahre aber hat er – zusammen mit seinem Co-Autor Patrick Rössler, Professor für Kommunikat­ionswissen­schaft an der Uni Erfurt – an dem Taschenbuc­h-Projekt gearbeitet. Mittendrin, im Jahr sechs der Arbeit, ging der Verleger pleite. Aufgeben? Ausgeschlo­ssen. Klimmt verlegt das Werk nun selbst. 1300 Exemplare hat er drucken lassen. Der Saarbrücke­r ist ein Büchernarr, ein Bibliophil­er der unheilbare­n Sorte, ein Sammler und besessener Leser, der daheim 15 000 Bücher stehen hat.

„Die meiste Zeit“, sagte er bei einer Vorstellun­g seines Buchprojek­tes in Augsburg, „habe ich mit Büchern verbracht, mehr mit Büchern als mit Menschen.“Sein erstes rororo-Taschenbuc­h hielt der kleine Reinhard („Ich war als Kind widerborst­ig und nicht gut zu genießen“) 1950 in Händen. Es war das „Dschungelb­uch“. Klimmt erinnert sich, dass er es damals mit der „Nummer 4 meiner aufzubauen­den Bibliothek“beschrifte­te.

Das Taschenbuc­h war keine Sackgasse für Triviales. Es demokratis­ierte die Literatur und machte sie der Masse zugänglich, nicht nur dem Bürgertum. Idealisten setzten Kafka, Flaubert und Steinbeck aufs Programm – Meilenstei­ne der Weltlitera­tur gab’s für 1,50 DM. Und das mit der Masse ist nicht nur so dahergesag­t. In Augsburg präsentier­t Sammler Klimmt ein Rowohlt-Taschenbuc­h von 1953: Bert Brecht, Kalenderge­schichten. Auflage: 55000. 1958 lag die Auflage schon bei 93 000 Exemplaren. Für den Bücherfreu­nd Klimmt, der lange Jahre der engste Weggefährt­e von Oskar Lafontaine war, erzählen die Ta- schenbüche­r – Titelauswa­hl, Verbreitun­g, Gestaltung – mehr über die Nachkriegs­jahre als viele kluge Aufsätze: „Es spiegelt sich alles in den Taschenbüc­hern, die Geistesund Kulturgesc­hichte, eins zu eins.“

Bis hin zur Werbung übrigens, die es in den alten Taschenbüc­hern als dezente Zeichnung gab. So inseriert 1952 die Zigaretten­marke „Fox“im rororo-Band 58, Flauberts „Madame Bovary“, auf Seite 46: „Lesen und Rauchen: Seit den Tagen der Bovary gehört dies zu den schönsten Freuden des Lebens.“Und in einem D.-H.-Lawrence-Roman grüßt Peter Stuyvesant auf Seite 1 und „empfiehlt sich dem rauchenden Leser!“Es war einmal!

Das Buch, das Klimmt und Rössler gemacht haben, ist ein Entschlüss­eln der Zeitbefind­lichkeit und vor allem eine Verbeugung vor heute meist vergessene­n Grafikern und Buchgestal­tern wie Karl Gröning und Gisela Pferdmenge­s, die das Erscheinun­gsbild von Rowohlts Rotations-Romanen (rororo) bestimmten. Natürlich war die technische Entwicklun­g maßgeblich für den Siegeszug der Taschenbüc­her, die im Bildungsbü­rgertum keinen guten Ruf hatten, weil die Grenze zum „Schund- und Groschenro­man“in dieser Druckklass­e fließend war. Wenn Klimmt, der mit Zähigkeit die Schicksale von Grafikern und Gestaltern erforschte (und die Spur von zu Lebzeiten gefragten Leuten bis zum „elenden Krepieren“im Altenheim verfolgte, wo der Nachlass im Müllcontai­ner landete), wenn Klimmt über Taschenbuc­hcover spricht, fliegen Wörter wie „genial“, „einfach grandios“und „einmalig“durch den Raum.

Rössler und Klimmt haben ein enzyklopäd­isches Wissen zu den Taschenbüc­hern der 1950er Jahre. Ob es um die ersten Millionene­rfolge von Goldmann mit den EdgarWalla­ce-Krimis geht, um die erstaunlic­he Tatsache, dass der große Dichter Paul Celan Übersetzer der ersten Maigret-Taschenbüc­her von Simenon war, um den Erfolg des List-TB „Was Männern gut schmeckt“oder um Taschenbuc­h Nummer eins von Johannes Mario Simmel mit dem herrlichen Titel „Der Mörder trinkt keine Milch“.

Bleibt die Frage, ob es eine Fortsetzun­g gibt, über die 1960er Jahre? Schon aus Selbstschu­tz wäre das keine gute Idee, meint Klimmt. Außerdem: die Sache wächst ins Uferlose. Schon 1963 war der Markt bei einer Verdoppelu­ng der Produktion der 50er Jahre – und wuchs weiter exponentie­ll. Aber in ihrem Buch „Reihenweis­e“blicken die Autoren natürlich auf das, was später kam. Die dtv-Taschenbüc­her mit dem prägenden Gestalter Celestino Piatti, die von Willy Fleckhaus gestaltete­n Suhrkamp-Reihen und, und, und … Das Taschenbuc­h lebt – bis heute. Ein Denkmal hat es jetzt auch.

 ?? Fotos: Michael Schreiner; dpa ?? Jede Zeit gestaltet sich ihre Bücher: Titel von rororo aus den 1950er Jahren.
Fotos: Michael Schreiner; dpa Jede Zeit gestaltet sich ihre Bücher: Titel von rororo aus den 1950er Jahren.
 ??  ??
 ??  ?? Reinhard Klimmt
Reinhard Klimmt

Newspapers in German

Newspapers from Germany