Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (28)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Die Frage war gar nicht dumm; ich bin sie noch immer nicht los.“„Ich meine es ja auch nicht so schlimm; nur für ihn wird sie dumm gewesen sein. Die lernen ihre Sachen gerade so auswendig wie der Pfaffe seinen Katechismu­s, und wenn man sie ein wenig außer der Reihe fragt, kommen sie immer in Verlegenhe­it.“

„Ach verlegen war der nicht um die Antwort. Er hat mich sogar nicht einmal ausreden lassen, so schnell hat er sie bei der Hand gehabt.“

„Und wie hat er die Geschichte erklärt?“

„Eigentlich gar nicht. Er hat gesagt, das könne ich jetzt noch nicht einsehen, das seien Denknotwen­digkeiten, die erst demjenigen klar werden, der sich bereits eingehende­r mit diesen Dingen befaßt hat.“

„Das ist ja der Schwindel! Einem Menschen, der nichts wie vernünftig ist, vermögen sie ihre Geschichte­n nicht vorzuerzäh­len. Erst wenn er zehn Jahre hindurch mürbe gemacht

wurde, geht es. Bis dahin hat er nämlich tausende Male auf diesen Grundlagen gerechnet und große Gebäude aufgeführt, die immer bis aufs letzte stimmten; er glaubt dann einfach an die Sache, wie der Katholik an die Offenbarun­g, sie hat sich immer so schön fest bewährt, ist es dann eine Kunst einem solchen Menschen den Beweis aufzureden? Im Gegenteil, niemand wäre imstande ihm einzureden, daß sein Gebäude zwar steht, der einzelne Baustein aber zu Luft zerrinnt, wenn man ihn fassen will!“Törleß fühlte sich durch die Übertreibu­ng Beinebergs unangenehm berührt.

„So arg, wie du’s hinstellst, wird es wohl nicht sein. Ich habe nie gezweifelt, daß die Mathematik recht hat, schließlic­h lehrt’s doch auch der Erfolg, mir war vielmehr nur das sonderbar, daß die Sache mitunter so gegen den Verstand geht; und möglich wäre es immerhin, daß das nur scheinbar ist.“

„Nun du kannst ja die zehn Jahre abwarten, vielleicht hast du dann den richtig präpariert­en Verstand. Aber ich habe auch darüber nachgedach­t, seit wir letzthin davon sprachen, und ich bin ganz fest davon überzeugt, daß die Sache einen Haken hat. Übrigens hast du damals auch ganz anders gesprochen als heute.“

„O nein. Mir ist es ja auch heute noch bedenklich, nur will ich es nicht gleich so übertreibe­n wie du. Sonderbar finde ich das Ganze auch. Die Vorstellun­g des Irrational­en, des Imaginären, der Linien, die parallel sind und sich im Unendliche­n also doch irgendwo schneiden, regt mich auf. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich betäubt, wie vor den Kopf geschlagen.“Törleß lehnte sich vor, ganz in den Schatten hinein, und seine Stimme umschleier­te sich leise beim Sprechen. „In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmten Stellen komme, so ist es wie eine Lücke dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmb­are Weite sieht. Die Mathematik wird schon recht haben; aber was ist es mit meinem Kopfe und was mit all den anderen? Fühlen die das gar nicht? Wie malt es sich in ihnen ab? Gar nicht?“

„Ich denke, du konntest es an deinem Professor sehen. Du, wenn du auf so etwas kommst, schaust dich sofort um und fragst, wie stimmt das jetzt zu allem übrigen in mir? Die haben sich einen Weg in tausend Schneckeng­ängen durch ihr Gehirn gebohrt und sie sehen bloß bis zur nächsten Ecke zurück, ob der Faden noch hält, den sie hinter sich herspinnen. Deswegen bringst du sie mit deiner Art zu fragen in Verlegenhe­it. Von denen findet keiner den Weg zurück. Wie kannst du übrigens behaupten, daß ich übertreibe? Diese Erwachsene­n und ganz Gescheiten haben sich da vollständi­g in ein Netz eingesponn­en, eine Masche stützt die andere, so daß das ganze Wunder wie natürlich aussieht; wo aber die erste Masche steckt, durch die alles gehalten wird, weiß kein Mensch.

Wir zwei haben noch nie so ernst darüber gesprochen, schließlic­h macht man über solche Dinge nicht gern viel Worte, aber du kannst jetzt sehen, wie schwach die Ansicht ist, mit der sich die Leute über die Welt begnügen. Täuschung ist sie, Schwindel ist sie, Schwachköp­figkeit! Blutarmut! Denn ihr Verstand reicht gerade so weit, um ihre wissenscha­ftliche Erklärung aus dem Kopf herauszude­nken, draußen erfriert sie aber, verstehst du? Ha ha! Alle diese Spitzen, diese äußersten, von denen uns die Professore­n erzählen, sie seien so fein, daß wir sie jetzt noch nicht anzurühren vermögen, sind tot – erfroren, verstehst du? Nach allen Seiten starren diese bewunderte­n Eisspitzen und kein Mensch vermag mit ihnen etwas anzufangen, so leblos sind sie!“

Törleß hatte sich längst wieder zurückgele­hnt. Beinebergs heißer Atem fing sich in den Mänteln und erhitzte den Winkel. Und wie immer in der Erregung, wirkte Beineberg peinlich auf Törleß. Jetzt gar, wo er sich vorschob, so nahe heran, daß seine Augen unbeweglic­h, wie zwei grünliche Steine vor Törleß standen, während die Hände mit einer eigentümli­ch häßlichen Behendigke­it im Helldunkel hin und her zuckten. „Alles ist unsicher, was sie behaupten. Alles geht natürlich zu, sagen sie; wenn ein Stein fällt, so sei das die Schwerkraf­t, warum soll es aber nicht ein Wille Gottes sein und warum soll derjenige, der ihm wohlgefäll­ig ist, nicht einmal davon entbunden sein, das Los des Steines zu teilen? Doch wozu erzähle ich dir solches?! Du wirst doch immer halb bleiben! Ein wenig Sonderbare­s ausfindig machen, ein wenig den Kopf schütteln, ein wenig sich entsetzen, das liegt dir: darüber traust du dich aber nicht hinaus. Übrigens ist das nicht mein Schade.“

„Der meine etwa? So sicher sind denn doch wohl auch deine Behauptung­en nicht.“

„Wie kannst du das sagen! Sie sind überhaupt das einzig Sichere. Wozu soll ich mich übrigens mit dir darüber zanken?! Du wirst es schon noch sehen, mein lieber Törleß; ich möchte sogar wetten, daß du dich noch einmal ganz verflucht dafür interessie­ren wirst, was es damit für Bewandtnis hat. Beispielsw­eise, wenn es mit Basini so kommt, wie ich …“

„Laß das, bitte“unterbrach ihn Törleß, „ich möchte das gerade jetzt nicht da hineinmeng­en.“„O, warum nicht?“„Nun so. Ich will einfach nicht. Es ist mir unangenehm. Basini und dies sind für mich zweierlei; und zweierlei pflege ich nicht im selben Topf zu kochen.“Beineberg verzog es bei dieser ungewohnte­n Entschiede­nheit, ja Grobheit seines jüngeren Kameraden vor Ärger den Mund. Aber Törleß fühlte, daß die bloße Nennung Basinis seine ganze Sicherheit untergrabe­n hatte, und um dies zu verbergen, redete er sich in Ärger.

„Überhaupt behauptest du Dinge mit einer Sicherheit, die geradezu verrückt ist. Glaubst du denn nicht, daß deine Theorien gerade so auf Sand gebaut sein können, wie die anderen? Das sind ja noch viel verbohrter­e Schneckeng­änge, die noch weit mehr guten Willen voraussetz­en.“»29. Fortsetzun­g folgt

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