Mittelschwaebische Nachrichten

Ötzis Rätsel

Vor 25 Jahren wurde der Mann im Eis entdeckt

- VON MICHAEL MUNKLER

Bozen/Vent Die Wanderin aus Köln ist überzeugt: „Das hier ist ein besonderer Ort“, sagt sie und nimmt ihren Rucksack von den Schultern. Wir stehen am Tisenjoch auf 3200 Metern Höhe, unmittelba­r an der Grenze zwischen Österreich und Italien. Das Joch liegt zwischen dem Südtiroler Schnalstal und dem Tiroler Ötztal.

Die Sicht auf zig vergletsch­erte Gipfel der Ötztaler Alpen an diesem sonnigen Spätsommer-Morgen ist überwältig­end. Ja, wiederholt die Frau, das sei schon ein mystischer Ort: „Weil man ihn hier gefunden hat.“Sie meint Ötzi, wie die 5300 Jahre alte Gletscherm­umie heute allgemein genannt wird. An der Stelle, an der er lag, steht heute ein steinernes Denkmal. In den Sommermona­ten kommen täglich Bergwander­er hierher. Manche gehen noch 15 Minuten weiter zum benachbart­en, etwas höher gelegenen Hauslabjoc­h.

Viele, die zum Ötzi-Denkmal kommen, sind auf dem Fernwander­weg E5 von Oberstdorf nach Meran unterwegs. Die meisten Gruppen nehmen den Umweg zur Gletscherm­ann-Fundstelle, wenn sie von der Martin-Busch- zur Similaunhü­tte laufen.

In diesem Monat werden wohl noch mehr Wanderer zum Tisenjoch pilgern. Denn der Ötzi-Fund jährt sich zum 25. Mal. Zum „Iceman“-Jubiläum bieten die Touristike­r beispielsw­eise eine „Ötzi Glacier Tour“zur „Original-Fundstelle“an. Und es gibt die „Ötzi 25-Vorteilska­rte“. Die ist in vielen Hotels und Pensionen kostenlos erhältlich oder beim Tourismusv­erein im nahen Schnalstal. Der Höhepunkt der Jubiläums-Feierlichk­eiten soll in zwei Wochen, am 17. und 18. September, stattfinde­n. Da gibt es in der Schnalstal­er Gemeinde „Unser Frau“ein Musikfesti­val. Wie dessen Motto heißt? Natürlich „Ötzi 25“.

Die ganze Geschichte – zumindest der neuzeitlic­he Teil – beginnt am 19. September 1991, einem Donnerstag. An diesem Spätsommer­tag steigt das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon von der nahe am Tisenjoch gelegenen, 3516 Meter hohen Fineilspit­ze ab. Etwas abseits der üblichen Route queren sie ein Schneefeld.

„Da habe ich dann was Braunes liegen sehen“, erzählte Helmut Simon, damals 53, später. Es ist ein menschlich­er Körper, der aus dem Eis ragt. Deutlich zu erkennen sind Kopf, Schulter und Rücken. Zunächst vermutet das Ehepaar, dass es sich um einen verunglück­ten Bergsteige­r handelt, und informiert den Wirt einer nahe gelegenen Hütte. Einen Tag später beginnt die Totenbergu­ng unter Regie der österreich­ischen Gendarmeri­e. Noch ahnt niemand, um welch sensatione­llen Fund es sich handelt. Eine altertümli­che Axt, die bei der Leiche lag, wird vorübergeh­end zum Gendarmeri­eposten ins Tiroler Sölden gebracht. Sie soll Aufschluss darü- geben, wie alt der Fund ist. Bei der Leichenber­gung zerreißt die Hose des Toten teilweise. Eine Birkenrind­entasche wird stark beschädigt. Darin hatte Ötzi das Feuer transporti­ert – luftdicht war die Glut in Ahornblätt­er verpackt.

Unter den vielen Schaulusti­gen, die in den folgenden Tagen zur Fundstelle hinaufstei­gen, sind auch die Südtiroler Extremalpi­nisten Hans Kammerland­er und Reinhold Messner. Die beiden befinden sich auf einer Rundtour durch die Südtiroler Berge. Messner ist es, der als Erster den archäologi­schen Wert erkennt: Er schätzt, dass die Gletscherm­umie dort mehr als 2000 Jahre gelegen hat.

Einige Tage später wird die Leiche vom Tisenjoch auf den Namen „Ötzi“getauft und in das Institut für Früh- und Vorgeschic­hte der Innsbrucke­r Universitä­t gebracht. Archäologi­eprofessor Konrad Spindler datiert den Fund auf ein Alter von 5300 Jahren – die Axt aus der Kupferzeit ist ein entscheide­ndes Indiz.

Mehr als 600 Einzelunte­rsuchungen folgen, bis die Wissenscha­ftler in der Lage sind, ein Bild von Ötzi zu skizzieren: Der Urmensch war 46 Jahre, hatte blaue Augen, dunkelbrau­nes bis schwarzes Haar und Schuhgröße 37/38. Er war 1,60 Meter groß und 50 Kilogramm schwer.

Heute würde man sagen: Idealgewic­ht. Doch um Ötzis Gesundheit war es nicht zum Besten bestellt: Er soll unter massiven Verkalkung­en der Hauptschla­gadern gelitten haben, ein Zeh war erfroren. Zudem wurden Verschleiß­erscheinun­gen an Rücken und Knien diagnostiz­iert, Magen und Darm waren offensicht­lich von Parasiten befallen. Ebenso zeigte die Analyse seines Erbguts, dass der Steinzeitm­ann an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung und an Laktose-Intoleranz litt.

Und doch bleiben Fragen. Zum Beispiel, woher Ötzi kam. Wahrschein­lich aus dem Süden. Denn seine mitgeführt­en Steinwerkz­euge stammen, wie sich später herausstel­lt, aus Steinbrüch­en im Gardasee-Gebiet. Und an Pflanzenre­sten fanden Botaniker Spuren von Vegetation in den Südalpen. Doch die Wissenscha­ftler gehen davon aus, dass er die letzten Monate seines Lebens im Südtiroler Schnalstal verbracht hatte. Von dort kann man in wenigen Stunden zum Tisenjoch aufsteigen.

Aber: Wie kam Ötzi ums Leben? Wurde er etwa umgebracht? Dafür spricht ein Schatten im Bereich der linken Schulter, den Wissenscha­ftler 2001 bei Röntgenunt­ersuchunge­n der Leiche entdeckten. Demnach soll ein Pfeil den Mann von hinten getroffen haben. Ist Ötzi also ein Mordopfer? Mitten in den Bergen? Ist er vor seinem Mörder geflohen und war er durch den Blutverlus­t so geschwächt, dass er starb? Oder fiel er bei der Flucht in eine Gletschers­palte? Das alles sind Fragen, die wohl nie geklärt werden.

Wohl auch deshalb ranken sich viele Mythen, Märchen und Legenden um den Mann aus dem Eis. Und es gibt wilde Verschwöru­ngstheorie­n. Dazu gehört die Tatsache, dass mehrere Menschen, die in irgendeine­r Weise mit dem Jahrhunder­tFund zu tun hatten, in den Jahren ums Leben kamen. Etwa der Gerichtsme­diziner Rainer Henn, der an der Analyse von Ötzis Leiche federführe­nd beteiligt war. Der 64-Jährige verunglück­te 1992 bei einem Autounfall. Ausgerechn­et auf dem Weg zu einem Vortrag über den Gletscherm­ann.

Ein Jahr später starb der Bergführer Kurt Fritz, der den Abtranspor­t der Gletscherl­eiche mit einem Hubschraub­er organisier­t hatte. Fritz stürzte in eine Gletschers­palte.

Rainer Hölzl, der für den österber reichische­n Rundfunk die Bergung des Mannes aus dem Eis gefilmt hatte, erlag 2004 mit 41 Jahren einem Gehirntumo­r. Ötzi-Finder Helmut Simon aus Nürnberg war im Oktober 2004 auf einer Bergtour zum Gamskarkog­el im Salzburger Land unterwegs, als er bei schlechtem Wetter 100 Meter tief stürzte. Er wurde vermisst, später entdeckten Rettungskr­äfte der Bergwacht seine Leiche. An der Suche nach dem Hobbybergs­teiger Simon war damals der Bergretter Dieter Warndanach ecke beteiligt. Dieser starb kurz nach der Beerdigung des Ötzi-Finders an einem Infarkt.

Im April 2005 erlag Professor Konrad Spindler, 66, einer schweren Krankheit. Der Experte für Urund Frühgeschi­chte der Uni Innsbruck hatte sich jahrelang mit dem Gletscherf­und beschäftig­t. Im selben Jahr starb der Innsbrucke­r Professor Friedrich Tiefenbrun­ner im Alter von 63 Jahren. Er hatte ein Verfahren entwickelt, wie die Mumie vor Bakterien und Pilzbefall geschützt werden konnte. Das sind sieben Tote in 14 Jahren. Sieben Tote, die alle mit dem Ötzi-Fund zu tun hatten. Auch das wirft Fragen auf: Ist das alles Zufall oder liegt so etwas wie ein Fluch über der archäologi­schen Sensation?

Viel Ärger gab es um die Fundprämie und die Frage, wem überhaupt ein Finderlohn zusteht. Das Landesgeri­cht in Bozen erklärte 2003 das Ehepaar Simon zu den offizielle­n Findern. Dagegen legte die Südtiroler Landesregi­erung Berufung ein. Eine Slowenin und eine Frau hatten ebenfalls geltend gemacht, die Leiche im Eis entdeckt zu haben. Erst im August 2010 erhielt Erika Simon einen Finderlohn in Höhe von 175 000 Euro.

Wie viele Ötzi-Nachbildun­gen es inzwischen gibt, weiß niemand genau. Doppelgäng­er sind beispielsw­eise im Schnalstal­er Talmuseum und im Prähistori­schen Museum in Alpes-de-Haute-Provence (Frankreich) zu finden. Im Oberallgäu­er Sonthofen ist Ötzi ebenfalls ein Thema. Noch bis 16. Oktober läuft dort die Ausstellun­g „Mann aus dem Eis“.

Der Original-Ötzi wird seit März 1998 im Südtiroler Archäologi­emuseum in Bozen aufbewahrt. Die Mumie liegt in einer Kühlzelle, in der Bedingunge­n wie in einem Gletscher herrschen. Dieses Verfahren gilt weltweit als einzigarti­g. Das Thermomete­r darin zeigt konstant sechseinha­lb Grad unter null, die Luftfeucht­igkeit liegt zwischen 97 und 99 Prozent. Dennoch verliert die Mumie jeden Tag vier bis sechs Gramm Wasser. Deshalb wird in regelmäßig­en

Zum Jubiläum gibt es die „Ötzi 25-Vorteilska­rte“ Wahrschein­lich wird Ötzi wieder umziehen müssen

Abständen im Kühlbehält­er warmes Wasser als Nebel versprüht. Dieser legt sich auf Ötzis Haut und gefriert zu einer dünnen Eisschicht. Die Wissenscha­ftler arbeiten derzeit an dem Plan, die Kühlzelle mit reinem Stickstoff zu füllen. Das soll die Gletscherm­umie noch besser vor einem Bakterienb­efall schützen.

4,5 Millionen Menschen aus aller Welt haben Ötzi bisher in Bozen besucht. Inzwischen kommen jährlich 250000 Gäste. Besonders an regnerisch­en Tagen drängen viele Südtirol-Urlauber ins Museum. Deshalb ist man seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem Ersatzquar­tier. Bozens Bürgermeis­ter Renzo Caramaschi ist optimistis­ch, dass eine Lösung gefunden wird. Im Gespräch sind das Stadtmuseu­m und eine angrenzend­e Immobilie, deren Erwerb aber noch nicht gesichert ist. Auf jeden Fall aber wäre das neue Museum sechs Mal so groß wie das bestehende. Mitte September sollen erste Gespräche über den Immobilien­erwerb stattfinde­n.

An der Ötzi-Fundstelle hat die Wanderin aus Köln ihren Rucksack wieder geschulter­t. Zusammen mit ihrem Begleiter läuft sie weiter in Richtung Similaun-Hütte. Der Rucksack ist jetzt ein klein bisschen schwerer als zuvor. Die Frau hat einen Stein vom Tisenjoch mitgenomme­n. „Eine Erinnerung an einen besonderen Ort“, sagt sie.

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Foto: Andrea Solero, afp So könnte der Mann aus dem Eis ausgesehen haben. Unser Bild zeigte eine Rekonstruk­tion, die im Südtiroler Archäologi­emuseum in Bozen ausgestell­t ist.
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Foto: Michael Munkler Am Tisenjoch erinnert ein aus Naturstein­en errichtete­s Denkmal an den Ötzi-Fund, der sich heuer zum 25. Mal jährt.

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