Mittelschwaebische Nachrichten
Die offene Frage heißt: Wie schaffen wir das auf Dauer?
Leitartikel Angela Merkels historisches Experiment einer lange unkontrollierten Masseneinwanderung hat das Land über Nacht verändert. Worauf es jetzt ankommt
Angela Merkel wird in die Geschichte eingehen als jene Kanzlerin, die ein gewaltiges Experiment gewagt und in einer einsamen Entscheidung die deutschen Grenzen für eine unkontrollierte Einwanderung geöffnet hat. Ob es eine Entscheidung zum Guten oder zum Schlechten war, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Im besten Fall gelingt die Integration so vieler aus einem fremden Kulturkreis stammender Menschen zum langfristigen Nutzen des Landes. Im schlechtesten Fall stürzt das Land in schwere politische und soziale Konflikte und wird nicht mehr jenes Deutschland sein, das „uns lieb und teuer“(Merkel) ist. Es steht also sehr viel auf dem Spiel, ohne dass sich schon heute die Folgen dieser im Handstreich und gegen den Widerstand einer Bevölkerungsmehrheit dekretierten Flüchtlingspolitik sicher vorhersagen ließen. Dies gilt umso mehr, als der Migrationsdruck auf Europa und das Sehnsuchtsziel Deutschland noch zunehmen wird.
Die Herausforderung besteht ja nicht nur darin, den bereits Eingetroffenen eine Heimstatt zu verschaffen und sie zugleich auf die Akzeptanz unserer Grundwerte und Regeln zu verpflichten. Es geht vor allem auch darum, den Prozess der Zuwanderung künftig so zu steuern, dass die aufnehmende Gesellschaft nicht überfordert wird und bestimmen kann, wer kommen kann und wer nicht. Der humanitäre, über jeden moralischen Zweifel erhabene Impuls zu helfen ist das eine; verantwortliche, das Gemeinwohl bedenkende, notfalls auch mit einiger Härte exekutierte Politik ist das andere. Zwischen diesen Polen muss die nicht zuletzt wegen Merkels Alleingang zerstrittene Europäische Union die rechte Balance finden. Misslingt diese Gratwanderung, geht Europa noch stürmischeren Zeiten entgegen.
Vor der Geschichte werde die Kanzlerin dereinst recht behalten, meint EU-Kommissionschef Juncker. Nun ja, wer weiß das schon. Im Moment jedenfalls sieht es eher nach einem historischen Fehlgriff als einer historischen Großtat aus. Merkels mit einem totalen staatlichen Kontrollverlust einhergehende Politik war keineswegs „alternativlos“und hat sowohl die politische Landschaft als auch die Stimmungslage im Volk nachhaltig verändert. Viel schwerer noch als der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD und der Ansehensverlust der Volksparteien wiegen die Spaltung der Gesellschaft und der tief sitzende Verdruss vieler, keineswegs nur „rechter“Bürger darüber, dass diesem Land über Nacht eine grundlegende Veränderung aufgezwungen wurde.
Der Absturz Merkels in der Gunst des Publikums zeugt von dem Vertrauensverlust, den die Kanzlerin erlitten hat. Allzu lange hat Merkel den Eindruck erweckt, als ob sie die Sorgen vor Überfremdung und wachsender Kriminalität nicht wirklich ernst nehme. Die Probleme und kulturellen Konflikte, die mit der Masseneinwanderung naturgemäß verbunden sind, wurden verniedlicht und kleingeredet. Die Verheißungen einer raschen Integration vieler Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt haben sich als Wunschdenken entpuppt – die meisten werden auf längere Zeit von Sozialhilfe leben. All dies erklärt, warum die Zweifel an Merkels berühmtem „Wir schaffen das“-Satz noch gewachsen sind.
Deutschland hat es geschafft, über eine Million Menschen aufzunehmen und zu versorgen. Das war eine großartige, auch menschliche Leistung, die dem Land zur Ehre gereicht. Die Antwort auf die entscheidende Frage, wie das alles auf Dauer zu „schaffen“ist, bleiben die Regierenden bisher schuldig. Ohne eine Obergrenze für die jährliche Zuwanderung und eine Kontrolle der Grenzen jedenfalls wird es nicht „zu schaffen“sein.
Die Sorgen der Menschen nicht ernst genommen