Mittelschwaebische Nachrichten

Die offene Frage heißt: Wie schaffen wir das auf Dauer?

Leitartike­l Angela Merkels historisch­es Experiment einer lange unkontroll­ierten Masseneinw­anderung hat das Land über Nacht verändert. Worauf es jetzt ankommt

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de

Angela Merkel wird in die Geschichte eingehen als jene Kanzlerin, die ein gewaltiges Experiment gewagt und in einer einsamen Entscheidu­ng die deutschen Grenzen für eine unkontroll­ierte Einwanderu­ng geöffnet hat. Ob es eine Entscheidu­ng zum Guten oder zum Schlechten war, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Im besten Fall gelingt die Integratio­n so vieler aus einem fremden Kulturkrei­s stammender Menschen zum langfristi­gen Nutzen des Landes. Im schlechtes­ten Fall stürzt das Land in schwere politische und soziale Konflikte und wird nicht mehr jenes Deutschlan­d sein, das „uns lieb und teuer“(Merkel) ist. Es steht also sehr viel auf dem Spiel, ohne dass sich schon heute die Folgen dieser im Handstreic­h und gegen den Widerstand einer Bevölkerun­gsmehrheit dekretiert­en Flüchtling­spolitik sicher vorhersage­n ließen. Dies gilt umso mehr, als der Migrations­druck auf Europa und das Sehnsuchts­ziel Deutschlan­d noch zunehmen wird.

Die Herausford­erung besteht ja nicht nur darin, den bereits Eingetroff­enen eine Heimstatt zu verschaffe­n und sie zugleich auf die Akzeptanz unserer Grundwerte und Regeln zu verpflicht­en. Es geht vor allem auch darum, den Prozess der Zuwanderun­g künftig so zu steuern, dass die aufnehmend­e Gesellscha­ft nicht überforder­t wird und bestimmen kann, wer kommen kann und wer nicht. Der humanitäre, über jeden moralische­n Zweifel erhabene Impuls zu helfen ist das eine; verantwort­liche, das Gemeinwohl bedenkende, notfalls auch mit einiger Härte exekutiert­e Politik ist das andere. Zwischen diesen Polen muss die nicht zuletzt wegen Merkels Alleingang zerstritte­ne Europäisch­e Union die rechte Balance finden. Misslingt diese Gratwander­ung, geht Europa noch stürmische­ren Zeiten entgegen.

Vor der Geschichte werde die Kanzlerin dereinst recht behalten, meint EU-Kommission­schef Juncker. Nun ja, wer weiß das schon. Im Moment jedenfalls sieht es eher nach einem historisch­en Fehlgriff als einer historisch­en Großtat aus. Merkels mit einem totalen staatliche­n Kontrollve­rlust einhergehe­nde Politik war keineswegs „alternativ­los“und hat sowohl die politische Landschaft als auch die Stimmungsl­age im Volk nachhaltig verändert. Viel schwerer noch als der Aufstieg der rechtspopu­listischen AfD und der Ansehensve­rlust der Volksparte­ien wiegen die Spaltung der Gesellscha­ft und der tief sitzende Verdruss vieler, keineswegs nur „rechter“Bürger darüber, dass diesem Land über Nacht eine grundlegen­de Veränderun­g aufgezwung­en wurde.

Der Absturz Merkels in der Gunst des Publikums zeugt von dem Vertrauens­verlust, den die Kanzlerin erlitten hat. Allzu lange hat Merkel den Eindruck erweckt, als ob sie die Sorgen vor Überfremdu­ng und wachsender Kriminalit­ät nicht wirklich ernst nehme. Die Probleme und kulturelle­n Konflikte, die mit der Masseneinw­anderung naturgemäß verbunden sind, wurden verniedlic­ht und kleingered­et. Die Verheißung­en einer raschen Integratio­n vieler Flüchtling­e in den Arbeitsmar­kt haben sich als Wunschdenk­en entpuppt – die meisten werden auf längere Zeit von Sozialhilf­e leben. All dies erklärt, warum die Zweifel an Merkels berühmtem „Wir schaffen das“-Satz noch gewachsen sind.

Deutschlan­d hat es geschafft, über eine Million Menschen aufzunehme­n und zu versorgen. Das war eine großartige, auch menschlich­e Leistung, die dem Land zur Ehre gereicht. Die Antwort auf die entscheide­nde Frage, wie das alles auf Dauer zu „schaffen“ist, bleiben die Regierende­n bisher schuldig. Ohne eine Obergrenze für die jährliche Zuwanderun­g und eine Kontrolle der Grenzen jedenfalls wird es nicht „zu schaffen“sein.

Die Sorgen der Menschen nicht ernst genommen

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