Mittelschwaebische Nachrichten

Endstation Calais

Immer noch harren dort bis zu 10000 Flüchtling­e aus. Die Regierung will dem nicht länger tatenlos zuschauen

- VON BIRGIT HOLZER

Calais Es sollte eigentlich nur eine Durchgangs­station darstellen, kurz vor der Ankunft in einem neuen Land und Leben. Doch für tausende Flüchtling­e stellt sich diese letzte Hürde als eine der schwersten auf ihrer langen Flucht heraus: Sie sitzen im französisc­hen Calais fest, wo ein Großaufgeb­ot der Polizei sie davon abhält, den Ärmelkanal zu überqueren. Denn Großbritan­nien will sie nicht aufnehmen.

Vor einem Jahr, als sich die Flüchtling­skrise zuspitzte, stellte London 100 Millionen Euro zur Verfügung, um die Sicherheit­svorkehrun­gen am Hafen und rund um den Eurotunnel zu verschärfe­n, wo viele Flüchtling­e nachts versuchen, auf Lastwagen aufzusprin­gen. Während die Zahl der Neuankömml­inge auf 50 pro Tag geschätzt wird, gelingt deutlich weniger Menschen die Weiterreis­e ins Vereinigte Königreich. Hilfsorgan­isationen gehen inzwischen von 10 000 Flüchtling­en in der nordfranzö­sischen Stadt aus, die Regierung in Paris spricht von 6900, darunter fast 1000 Minderjähr­igen. In jedem Fall ist die Lage explosiv.

Nicht nur fehlt es an Unterkünft­en, sanitären Einrichtun­gen und Lebensmitt­eln. Auch kommt es immer wieder zu Spannungen in Frankreich­s größtem Flüchtling­slager, in dem überwiegen­d Sudanesen und Eritreer wohnen. Zwei Menschen starben im August nach Auseinande­rsetzungen. Und nicht zuletzt leidet die Stadt, deren 72 000 Bewohner gespalten sind. Auf der einen Seite stehen jene, die helfen und die Situation zumindest abmildern wollen, wie François Guennec, Mitarbeite­r der Hilfsorgan­isation „Auberge des migrants“(„Flüchtling­s-Herberge“). „Mir ist die Vorstellun­g unerträgli­ch, dass nebenan Menschen hungern und in einem Slum schlafen“, erklärt er sein Engagement. Und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die nicht mehr mit den Flüchtling­en konfrontie­rt werden wollen und eine Auflösung des Lagers am Rande der Stadt fordern. Für Montag plant ein Zusammensc­hluss aus Lastwagenf­ahrern und lokalen Unternehme­rn Straßenblo­ckaden. „Bisher haben wir die sanfte Methode angewendet und erhielten vom Staat nur leere Verspreche­n“, sagt einer der Initiatore­n, Frédéric Van Gansbeke.

Innenminis­ter Bernard Cazeneuve, der am Freitag Calais besuchte, erwidert, die Regierung arbeite „mit der größten Entschloss­enheit“auf die Auflösung des Lagers in Etappen hin. So wurden seit Oktober 5528 Flüchtling­e aus Calais auf 161 Aufnahmeze­ntren im ganzen Land verteilt, wo sie über einen Asylantrag in Frankreich statt der Weiterreis­e nach Großbritan­nien nachdenken sollten – die Insel zieht aber viele der Flüchtling­e an, weil sie dort Familie haben, Englisch sprechen und leichter Schwarzarb­eit finden. Cazeneuve zufolge plant Frankreich den Bau tausender neuer Unterkünft­e für Asylsuchen­de. Zugleich kündigte er die Verstärkun­g der 1900 Polizisten und Gendarmen in Calais um weitere 200 Leute an. Allein in diesem Jahr seien 29 illegale Schleppern­etzwerke ausgehoben worden, so der Minister.

„Die Situation in Calais ist unerträgli­ch für alle: Flüchtling­e, Sicherheit­skräfte, Anwohner“, sagt Franck Esnée von der Vereinigun­g „Ärzte ohne Grenzen“. Er plädiert für Ersatz-Unterkünft­e für die Flüchtling­e, ein sofortiger Abriss des Lagers sei aber keine Lösung. Denn weiterhin werden täglich dutzende Menschen nach Calais strömen – in der Hoffnung, auch diese letzte Hürde noch zu überwinden.

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Foto: afp Das Flüchtling­slager in Calais soll aufgelöst werden.

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