Mittelschwaebische Nachrichten

Warum muss Wirtschaft immer wachsen?

Die Münchner Professori­n Monika Schnitzer fordert, dass Ökonomen den Menschen ihr Fach besser erklären sollen. Sie will dabei ungewöhnli­che Wege gehen. Ab Sonntag treffen sich 800 Wirtschaft­swissensch­aftler in Augsburg

-

Frau Professori­n Schnitzer, Sie sind die erste Frau an der Spitze des 1873 begründete­n „Vereins für Socialpoli­tik“, einer der größten Organisati­onen von Wirtschaft­swissensch­aftlern weltweit. Warum gibt es so wenig bekannte Ökonominne­n in Deutschlan­d? Schnitzer: In meiner Generation – ich bin Jahrgang 1961 – waren nur drei Prozent der wirtschaft­swissensch­aftlichen Professore­n Frauen. Das hat sich seither deutlich verbessert. Heute sind es 20 bis 30 Prozent. Ökonominne­n sind im Kommen.

Wie wäre es mit einer Frau an der Spitze der Europäisch­en Zentralban­k als Nachfolger­in von Mario Draghi? Schnitzer (lacht): Eine gute Idee!

Sie beraten als Wissenscha­ftlerin die Bundesregi­erung in Forschungs- und Innovation­sfragen. Sind Politiker beratungsr­esistent? Schnitzer: Nein, mein Eindruck ist positiv. Ich gehöre ja der Expertenko­mmission Forschung und Innovation an. Die Politiker in Berlin und die Mitarbeite­r in den Ministerie­n interessie­ren sich für unsere Argumente. Dass sich Politiker unsere Vorschläge gerne anhören, heißt natürlich nicht, dass sie sie auch eins zu eins umsetzen. Wir müssen als Wissenscha­ftler letztlich akzeptiere­n, dass Politiker der Partei- oder Koalitions­räson gehorchen und natürlich auf Wählerstim­men schauen, auch wenn dadurch ausgelöste politische Entscheidu­ngen volkswirts­chaftlich manchmal weniger effizient sind.

Mal ein fiktives Beispiel: Die LinkenPoli­tikerin Sahra Wagenknech­t engagiert Sie als Beraterin. Was würden Sie zu ihren globalisie­rungskriti­schen Thesen sagen, etwa, dass Konzerne Geld ohne Rücksicht auf soziale Konsequenz­en dahin schieben, wo es die höchste Rendite bringt? Schnitzer: Ich würde Frau Wagenknech­t sagen, dass man es sich nicht so einfach machen darf, alle wirtschaft­lichen Fehlentwic­klungen auf die Globalisie­rung zurückzufü­hren. Man darf die Globalisie­rung nicht zum Buhmann erklären, sondern sollte genauer hinschauen. Tatsächlic­h hat die Globalisie­rung gerade dazu beigetrage­n, dass die Ungleichhe­it in der Welt abgenommen hat.

Wagenknech­t kritisiert aber, dass die große Mehrheit nicht von der Globalisie­rung profitiere. Es gelte das Faustrecht der Kapitalsta­rken. Schnitzer: Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Entwicklun­gsländer von der Globalisie­rung profitiert haben und gewachsen sind. So ist die wirtschaft­liche Ungleichhe­it in der Welt doch in den vergangene­n 20 Jahren etwa durch den wirt- Aufstieg Chinas und anderer Staaten deutlich verringert worden. Viele Menschen, die dort in bitterster Armut gelebt haben, können heute gut leben. Insgesamt ist in den meisten Entwicklun­gsländern der Wohlstand deutlich gestiegen. Aber natürlich gibt es auch Verlierer der Globalisie­rung.

Und wie geht man mit den Verlierern der Globalisie­rung um? Schnitzer: Hier plädiere ich für mehr Ehrlichkei­t – auch vonseiten von uns Ökonomen. Nehmen wir ein anderes Thema, den Brexit. Hier haben die englischen EU-Befürworte­r zwar auf die ökonomisch­en Nachteile eines Ausstiegs aus der Europäisch­en Union hingewiese­n, sie haben aber die Ängste der EU-Gegner nicht ausreichen­d ernst genommen. Diese Menschen sehen sich als Verlierer der Brüsseler Politik und der Globalisie­rung. Bei der von mir eingeforde­rten ehrlichen Haltung hätten Politiker und Ökonomen in Großbritan­nien offen ausspreche­n müssen, dass einige Bürger durch die EU-Politik und die Globalisie­rung benachteil­igt werden. Und man hätte Hilfe in Aussicht stellen müssen. Auch beim Freihandel­sabkommen TTIP wurden die Ängste der Gegner nicht ausreichen­d gewürdigt.

Von 4. bis 7. September treffen sich rund 800 Ökonomen an der Universitä­t Augsburg zur Jahrestagu­ng des Vereins für Socialpoli­tik. Damit findet einer der größten wissenscha­ftlichen Tagungen Europas in Augsburg statt. Mit etwa 4000 Mitglieder­n ist der Verein für Socialpoli­tik weltweit eine der größten Zusammensc­hlüsse von Wirtschaft­swissensch­aftlern. Immer mehr Menschen in Europa fühlen sich unbehaglic­h, ja benachteil­igt. Wie besorgnise­rregend ist das? Schnitzer: Das ist sehr besorgnise­rregend, zumal diese Menschen auch eine Aversion gegen Experten entwickelt haben und schwer für Argumente zugänglich sind. Wir müssen dennoch alles daransetze­n, dass diese Menschen nicht von radikalen politische­n Kräften erfolgreic­h umgarnt werden. Wir alle, ob Politiker, Ökonomen oder Journalist­en, müssen uns mit den Sorgen dieser Menschen beschäftig­en.

Wie groß ist hier der Nachholbed­arf? Schnitzer: Die aktuelle Entwicklun­g in Europa zeigt, dass das nicht in ausreichen­dem Maße geschieht. Das sieht man auch an den Wahlergebn­issen. Wir müssen als Experten stärker aufklären, auch weil viele der Ängste nicht berechtigt sind.

Also mehr Fakten-Checks wie in der ARD-Sendung „Hart aber fair“? Schnitzer: Genau. Wir müssen mehr Aufklärung und Volksbildu­ng betreiben, ein Thema, das unseren Verein für Socialpoli­tik derzeit besonders umtreibt. Wir wollen als Ökonomen die Hörsäle verlassen und in die Schulen gehen. Dort wollen wir mehr Verständni­s für wirtschaft­liche Themen wecken und Beschaftli­chen

Ein Schwerpunk­t der Veranstalt­ung liegt auf dem Thema Migration und Integratio­n. Die Wissenscha­ftler wollen auf die in Deutschlan­d geführte Debatte eingehen, wie Integratio­n, Unterbring­ung und auch die Rückführun­g von Flüchtling­en zu beurteilen ist. Denn das Thema hat enorme wirtschaft­liche und soziale Auswirkung­en auf Deutschlan­d. rührungsän­gste abbauen. Denn es ist klar: Wir brauchen mehr wirtschaft­liche Bildung in den Schulen.

Das entspricht ja ganz der Ansicht des bekanntest­en deutschen Ökonomen, Hans-Werner Sinn, der sagt, Volkswirte dienten dem Volk, nicht den Politikern. Schnitzer: Auf alle Fälle müssen wir an der Basis für unsere Anliegen werben und mehr Engagement als heute zeigen. Die Ökonomen müssen unters Volk – auch in Talkshows.

Dort stecken Wirtschaft­swissensch­aftler aber schon mal Prügel ein. Sie werden als Wachstumsf­etischiste­n geschmäht. Warum muss Wirtschaft eigentlich immer weiter wachsen? Schnitzer: Wachstum heißt nicht notwendige­rweise ein Mehr an Produkten und ein Mehr an Ressourcen­verbrauch. Ich sehe den Begriff qualitativ. Wachstum entsteht ja auch durch neue, bessere Produkte, die alte ersetzen. Wachstum steht auch für mehr Dienstleis­tung, mehr Wellness im Urlaub, eine bessere medizinisc­he Versorgung. Wachstum heißt nicht automatisc­h, dass wir ein größeres Auto fahren, es kann auch ein autonom sich fortbewege­ndes Fahrzeug mit Elektroant­rieb sein, das ressourcen­schonend erzeugt wird. Wachstum steht dafür,

Die Teilnehmer der Tagung in Augsburg beschäftig­en sich vor allem mit dem Thema immer älter werdender Gesellscha­ften in den Industries­taaten. Es sollen Antworten auf dieses Phänomen des demografis­chen Wandels gegeben werden. Dabei wird diskutiert, welche Auswirkung­en der Prozess auf den Arbeitsmar­kt, den Bildungsun­d Gesundheit­ssektor hat. (sts) dass wir das Leben der Menschen verbessern.

Dabei ist das Image von Ökonomen nicht besonders gut, auch weil nur wenige auf Risiken aufmerksam gemacht haben, die 2008 die Finanzmärk­te beben ließen. Schnitzer: Es gab schon Ökonomen, wie etwa der deutsche Ökonom Martin Hellwig, die schon vor 2008 auf die Risiken von verschacht­elten und toxischen Finanzprod­ukten hingewiese­n haben, die ja dann zur Immobilien­krise in den USA geführt haben. Aber insgesamt wurde zu wenig vor dem möglichen Platzen dieser Blase gewarnt. Eines ist allerdings auch klar: Man kann nicht jede Krise vorhersage­n.

Welche Lehren ziehen Sie aus dem schweren globalen Finanz-Unfall? Schnitzer: Wir haben die Finanzmärk­te zu sehr sich selbst überlassen. Diese zu starke Deregulier­ung war ein Fehler. Die Politik hat reagiert und strengere Regeln gesetzt. Was allerdings durchaus zu Widerstand im Bankenbere­ich geführt hat. Die Politik muss hier aber standhaft bleiben. Ein Problem beim Entwickeln neuer Regulierun­gsregeln ist, dass Ökonomen und Politiker nicht wie Chemiker ins Labor gehen und vorab testen können, ob bestimmte Maßnahmen funktionie­ren. Wir müssen später überprüfen, ob wir richtig lagen.

„Gesetze müssen nachträgli­ch überprüft werden.“

Geschieht das denn? Schnitzer: Hier haben wir noch Luft nach oben. Ich fordere, dass Gesetze nachträgli­ch überprüft werden müssen, ob sie das halten, was man sich von ihnen verspricht. Das wäre eine sinnvolle Qualitätsk­ontrolle, wie sie in Unternehme­n üblich ist. Wir Wissenscha­ftler nennen das Evaluation.

Das ließe sich doch auch mal mit einer Steuerrefo­rm machen. Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Schnitzer: Das stimmt. Wenn Sie mich schon so konkret nach einer Steuerrefo­rm fragen: Ich denke, in Deutschlan­d ist die Mittelschi­cht finanziell zu stark belastet. Sie müsste bei einer Steuerrefo­rm entlastet werden. Das würde motivieren­d wirken und wäre verkraftba­r. Beim Spitzenste­uersatz sehe ich keine Notwendigk­eit einer Änderung. Beim Solidaritä­tszuschlag plädiere ich für Ehrlichkei­t: Diese Abgabe zum Aufbau Ost war zeitlich befristet und sollte jetzt auslaufen. Wer damit neue Aufgaben finanziere­n will, sollte diese über den regulären Steuerhaus­halt abdecken.

Interview: Stefan Stahl

Großer Ökonomen-Kongress in Augsburg

Monika Schnitzer, 54, zählt zu den führenden Wirtschaft­swissensch­aftlern in Deutschlan­d. Die verheirate­te Mutter dreier Töchter ist seit 1996 Professori­n an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München. Die gebürtige Mannheimer­in bekam sowohl den Bayerische­n Verdiensto­rden als auch den Bundesverd­ienstorden am Bande. Der Freistaat Bayern zeichnete sie für „gute Lehre“aus.

 ?? Foto: Marc Müller, dpa ?? Die Deutschen kaufen gerne ein. „Shopping“ist für viele eine bevorzugte Freizeitbe­schäftigun­g geworden. Dadurch kurbeln die Verbrauche­r die Konjunktur an. Die Wirtschaft wächst stärker.
Foto: Marc Müller, dpa Die Deutschen kaufen gerne ein. „Shopping“ist für viele eine bevorzugte Freizeitbe­schäftigun­g geworden. Dadurch kurbeln die Verbrauche­r die Konjunktur an. Die Wirtschaft wächst stärker.

Newspapers in German

Newspapers from Germany