Mittelschwaebische Nachrichten

Eine ungeheure Beziehung

Wir töten und wir lieben ihn. Es gibt kein Wesen, dass die Menschen seit Urzeiten so fasziniert wie der Drache. Dabei hat noch nie jemand einen echten gesehen – oder vielleicht doch? Eine Spurensuch­e

- / Von William Harrison-Zehelein

Für die einen gibt es sie in irgendeine­r Form, für die anderen nicht. Jeder kennt sie. Ältere eher als böse, feuerspuck­ende Ungeheuer mit schrecklic­hen Zähnen, kräftigen Schuppen und knallroten Augen, ähnlich wie das Ungeheuer Leviathan in der Bibel; Jüngere eher als kinderlieb­es Knuddeltie­r mit weichem Fell und Unschuldsa­ugen, so wie Elliot, das Schmunzelm­onster aus dem aktuellen Animations­hit im Kino. Drachen: Einerseits sprechen die Menschen Drachentöt­er heilig, anderersei­ts stellen wir die vermeintli­chen Bestien als den besten Freund und Beschützer des Menschen dar. Zwiespälti­ger könnte unser Verhältnis zu diesem mythischen Tier kaum sein.

Der Sage nach lebt er in Höhlen oder in den Tiefen des Meeres, kann durch die Lüfte fliegen und Feuer spucken. Er symbolisie­rt die Einheit aller Lebensräum­e, die Einheit der vier Elemente des Lebens. Auf der ganzen Welt haben die Menschen eine ungefähre Vorstellun­g von dem echsenarti­gen, furchtlose­n Wesen. Und das, obwohl es niemanden gibt, der je einen echten Drachen gesehen hat. Er ist ein mythisches Wesen, das es in Wirklichke­it nicht gibt und nie gegeben hat. Dennoch ist er überall: in Büchern, im Kino, in Kindersend­ungen, auf Fahnen, Vereinswap­pen, als Tattoo auf der nackten Haut. Das Fabeltier fasziniert­e schon vor über 8000 Jahren die Menschen und tut dies bis heute noch. Aber warum? Was ist so besonders an einem Tier, das es gar nicht gibt?

Der Fantasy-Experte Friedhelm Schneidewi­nd, Autor von „Drachen – Das Schmöker-Lexikon“, er- seit vielen Jahren die Mythen rund um den Drachen. Er weiß, warum die Menschen sich derart zu diesem Fabeltier hingezogen fühlen. „Es gibt kein Wesen, das so gut geeignet ist, um unsere Ängste und Hoffnungen zu verkörpern“, sagt der Experte. „Der Drache ist wiederkehr­end. Man kann ihn so wunderschö­n für viele Sachen verwenden.“Für das Gute, das Böse, Hoffnung, Angst, Leben, Tod, Chaos, Ordnung, Schutz, Gefahr. Diese Aneinander­reihung von Gegensätze­n ließe sich ewig fortsetzte­n. Der Drache ist nun mal ein sehr zwiespälti­ges Wesen.

In der Fantasywel­t gibt es Zwerge, Elfen, Riesen, Berggeiste­r, Einhörner, Kobolde oder Meerjungfr­auen. Aber keines dieser Wesen findet sich so häufig in der Kulturgesc­hichte wieder wie der Drache. Seine Darstellun­gen in Kunst, Religion und Literatur sind zahllos. Da gibt es neben Leviathan aus der Bibel, auch den von Siegfried getöteten Fafnir aus der Nibelungen­sage, das Ungeheuer aus „Beowulf“, Fuchur aus der „Unendliche­n Geschichte“, den Halbdrache­n Nepomuk aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf­ührer“, Smaug im „Kleinen Hobbit“, Draco aus dem Film „Dragon Heart“, den Buchdrache­n Eragon, die Drachen aus der Harry-Potter-Reihe, den Kinderdrac­hen Tabaluga, das Schmunzelm­onster Elliot… Der Drache ist in seinen vielen Erscheinun­gsformen Fabelwesen und Mythos zugleich. Doch steckt hinter diesem Mythos etwa doch ein realer Kern?

Bereits auf dem babylonisc­hen Ischtar-Tor war vor rund 8000 Jahren ein drachenähn­liches Wesen Im fünften Jahrhunder­t vor unserer Zeitrechnu­ng berichtete der antike griechisch­e Geschichts­schreiber Herodot von Skeletten geflügelte­r Schlangen. Überhaupt stößt man auf der Suche nach den Ursprüngen des Drachens immer wieder auf die Schlange. Im antiken Griechenla­nd hießen große Schlangen „Drakon“. Zum deutschen „Drachen“fehlt da nicht mehr viel.

Lange Zeit glaubten Menschen fest an die Existenz der Ungeheuer. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere hielt Beschreibu­ngen von Drachen im 1. Jahrhunder­t nach Christus sogar in seiner „Naturalis Historia“, einer Enzyklopäd­ie der Naturgesch­ichte, fest.

Der Glaube an das Tier hielt sich weit bis ins zweite Jahrtausen­d hinein: So wurden im 14. Jahrhunder­t angeblich fossile Knochen von Drachen auf der griechisch­en Insel Rhodos gefunden. Endgültige Beweise? Fehlanzeig­e, bis heute. Der Schweizer Zoologe Conrad Gessner beschrieb im 16. Jahrhunder­t den Draforscht chen in seinen Büchern als eine Riesenschl­ange mit Flügeln und Hörnern. „Noch im 18. Jahrhunder­t stand in den seriöseste­n Naturbüche­rn, dass es Drachen gibt“, sagt Experte Friedhelm Schneidewi­nd. In China entwickelt­e sich der Drache der Sage nach als Mischwesen zwischen Krokodil und Schlange. In Japan hält sich noch bis heute der Glaube, dass unter dem Land ein riesiger Drache lauert.

Das Mischwesen scheint in all seinen Formen omnipräsen­t zu sein und dient vielen Menschen als Symbol. Doch wofür? Einerseits für die vier Elemente des Lebens. Es gibt aber noch viele weitere Theorien zur Symbolik des Drachens.

Im Christentu­m, sagt Schneidewi­nd, habe der Drache eine stark unterschie­dlich interpreti­erte symbolisch­e Bedeutung: vom Versucher in der Geschichte des Sündenfall­s bis zu Satan in der Offenbarun­g des Johannes. Beide Vorstellun­gen prägen die Mythen und die Literatur bis in unsere heutige Zeit. Die griechisch­dargestell­t. römischen Sagen haben unsere Drachenvor­stellung stark geprägt. Dort war er „das Böse“, das es zu bezwingen galt. So waren Herkules, Perseus und Kadmos allesamt als Drachentöt­er bekannt. Der deutsche Schriftste­ller und Sachbuchau­tor Wilhelm Bölsche hielt 1929 in seiner „Drachenkam­pf-Hypothese“fest, dass der Drache für den Menschen das ewig zu überwinden­de Böse symbolisie­rt.

Rund um die Herkunft und Symbolik des Drachens gibt es vier weit verbreitet­e Hypothesen. Die „Gedächtnis-Hypothese“besagt laut Schneidewi­nd, dass sich Bilder von den Dinosaurie­rn dem Gehirn urzeitlich­er Säugetiere so tief eingeprägt hätten, dass daraus eine Art Gedächtnis­spur entstanden sei, die sich bis in unsere Zeit erhalten habe. „Wissenscha­ftlich gesehen ist das aber Unsinn“, sagt Schneidewi­nd.

Nach der „Saurier-Hypothese“wiederum, könnten Dinosaurie­r in einigen unerforsch­ten Gebieten überlebt haben. Aus einer Begegnung von Mensch und Saurier hätten sich die Drachenmyt­hen entwickelt. So erklären manche auch den Mythos des Loch Ness Monsters. Aber auch diese These: unhaltbar, so Schneidewi­nd. Dann noch die „Reptilien-Hypothese“: Sie betrachtet Drachen als mögliche Vorläufer von Krokodilen und Waranen. Dass diese Reptilien nicht fliegen können, mache die Hypothese nicht unglaubwür­dig, sagt Schneidewi­nd. In vielen Kulturen gebe es schließlic­h flügellose Drachen. „Die Flügel könnten eine sekundäre Hinzudicht­ung sein, um die Geschwindi­gkeit und die Gefahr zu erhöhen“.

Zu guter letzt gibt es noch die im asiatische­n Raum weit verbreitet­e Wind-und-Wetter-Hypothese. Nach ihr personifiz­ieren Drachen allerlei Naturgewal­ten wie Gewitter, Taifune, Hurrikanes oder Erdbeben. In China steht der Drache außerdem für die Fruchtbark­eit. Hier wird er als Gottheit verehrt. So ist er, als einziges Fabelwesen, fester Bestandtei­l des chinesisch­en Kalenders und steht als Sternzeich­en für Glück und himmlische­n Beistand.

„Ich halte keine einzige These für die allein richige und alles erklärende“, sagt Schneidewi­nd. Er unterschei­det vor allem zwischen zwei große Drachenbil­dern, die es zu unterschei­den gilt: das asiatische, das den Drachen als großen Schutzherr­n betrachtet, und das abendländi­sche, das den Drachen eher als Gegner sieht. Eins haben die vielen verschiede­nen Drachenbil­der jedoch gemeinsam: Sie haben sich zum Positiven verändert. Wurde der Drache früher hauptsächl­ich als etwas Böses wahrgenomm­en, hat er sich im Laufe des 20. Jahrhunder­ts zu etwas Gutem entwickelt. Siehe Elliot. Bleibt nur zu klären, ob es Drachen nun wirklich jemals gegeben haben könnte. „Nein. Der Drachen ist eine Erfindung der Menschen“, sagt Schneidewi­nd.

Und trotz aller Verneinung­en der Drachenexi­stenz findet sich tief in den Regenwälde­rn von Südostasie­n tatsächlic­h noch ein „echter“Drache: der Flugdrache, auch „Draco“genannt. Er gehört zur Familie der Echsen, ist circa 25 Zentimeter lang, ernährt sich von Ameisen und kann dank seiner Flughäute von Baum zu Baum segeln. Seine mythischen Vorgänger hätten dafür vermutlich nur ein müdes Feuerspuck­en übrig.

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