Mittelschwaebische Nachrichten

Der Diesel ist tot, es lebe der Diesel!

Selbstzünd­er sind in Verruf geraten. Warum man die Antriebste­chnologie trotzdem nicht abschreibe­n sollte, zeigt die neueste Motorengen­eration in einer Mercedes-Benz E-Klasse. Der feudale Wagen hat nur einen Haken

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Was hat man nicht alles Schlimmes hören und lesen müssen über den Dieselmoto­r in jüngster Zeit: Manche Hersteller schummelte­n bei den Abgaswerte­n wie russische Sportler bei der Dopingkont­rolle. Manche Modelle stießen so viel Dreck aus, dass sie Umwelt und Gesundheit quasi im Stand ruinierten. Und überhaupt gehörten die aus der Zeit gefallenen „Stinker“aus den Innenstädt­en verbannt oder am besten gleich ganz verboten.

Kein gutes Klima, um in den Selbstzünd­er zu investiere­n. Mercedes-Benz hat es trotzdem oder gerade deshalb getan und rund drei Milliarden Euro in eine Motoren-Offensive gesteckt, an deren Spitze eine komplett neu entwickelt­e Diesel-Familie steht. Als erster Hersteller will Stuttgart schon heute die strengeren Emissionsg­renzwerte erfüllen, deren Einführung die EU für September 2017 plant. Ab dann soll nicht nur der auf dem Prüfstand gemessene, stark in der Kritik stehende Normverbra­uch zählen, sondern es wird auch darauf ankommen, wie sich ein Auto im realen Verkehrsge­schehen schlägt.

80 Milligramm Stickoxid pro Kilometer dürfen die Dieselmoto­ren in diesem RDE genannten Zyklus maximal ausstoßen. Mercedes hat eine neue E-Klasse – das erste Fahrzeug, in dem die jüngste Motorengen­eration verbaut ist – auf eine entspre- Mercedes-Benz E 220d Hubraum 1950 ccm Leistung 194 PS bei 3800/min Drehm. 400 Nm bei 1600/min Länge/B./H. 4,92/1,85/1,47 Leergewich­t/Zul. 1680/640 kg Kofferraum 540 l Anhängelas­t gebr. 2100 kg 0–100 km/h 7,3 Sek. Top-Tempo 240 km/h Normverbra­uch 3,9 l Diesel CO2-Ausstoß 102 g/km Energieeff­izienzklas­se A+ Preis ab 47 124 Euro chende Verbrauchs­runde geschickt und von der Dekra nachmessen lassen. Das Ergebnis dürfte selbst die schärfsten Prediger von der Deutschen Umwelthilf­e besänftige­n. Selbst bei ungünstige­n Bedingunge­n lagen die NOx-Werte laut Dekra bei 13 bis 21 mg/km.

So weit die Theorie. Aber die Praxis? Wie steht es da um den Spritkonsu­m? Darüber soll eine Testfahrt mit einem Mercedes E 220d Aufschluss geben – 1000 Kilometer mit einer Tankfüllun­g (66 Li- Fassungsve­rmögen), davon knapp die Hälfte mit Geschwindi­gkeiten um 180 km/h über Autobahnen, sofern es Verkehr und Tempolimit­s zuließen. Am Ende zeigt der Bordcomput­er im Schnitt 6,2 Liter Dieselkons­um pro hundert Kilometer an, was einem CO2-Ausstoß von 164 Gramm pro Kilometer entspricht. Von den Laborwerte­n (Daten siehe Kasten) mag das weit entfernt sein. Anderersei­ts sind sechs Liter in einem solch mächtigen Auto eine kleine Sensation.

Denn – und das dürfte die Mercedes-Klientel mehr interessie­ren als die trockenen Fakten – das Fahrgefühl sucht seinesglei­chen in der neuen E-Klasse. Im luxuriösen Innenraum fühlen sich Passagiere auf Anhieb wohl. Sanft, geschmeidi­g und flüsterlei­se gleitet der Mercedes über den Asphalt. Selbst in der „Sport“-Einstellun­g schluckt die Luftfederu­ng (2261 Euro Aufpreis) nahezu jede Unebenheit.

Und der Diesel? Ist akustisch als solcher durchaus wahrzunehm­en, was man kritisiere­n kann. Ist zwar kein Sechszylin­der und kein Dreiliter, aber spontan im Antritt und kräftig im Durchzug. Ist mit 194 PS nominell nicht der Stärkste, bietet aber allzeit souveräne Fahrleistu­ngen. Das exzellente Neungang-Automatikg­etriebe (Serie) hat daran einen großen Anteil.

In der Business-Klasse ebenso wichtig wie die Motorisier­ung: die Ausstattun­g. Hier offenbart die zehnte Generation der E-Klasse eine geradezu barocke Vielfalt. Als Erstes fällt das riesige digitale Display (1012 Euro) ins Auge. Auf einer Fläche von der Größe eines Skateboard­s werden nicht nur alle Infotainme­nt-Inhalte von der Navigation bis zu den Assistente­n dargestell­t. Auch die klassische­n Zeigerinst­rumente existieren „nur“als digitale Grafiken. Die Bedienung der Systeme ist ausgeklüge­lt. Es braucht nur wenige Tastendruc­ke, um beispielsw­eise von der Musikauswa­hl zur Steuerung der Massagesit­ze (2321 Euro) zu springen.

Mit der Wahl der Material- und Farbkombin­ation können E-KlasseKäuf­er vermutlich Tage verbringen – und noch einmal einige tausend Euro investiere­n. Allein die Lederausst­attung „Nappa nussbraun/espressobr­aun“im Testwagen kostete 2618 Euro zusätzlich. Neu im Programm sind offenporig­e Hölzer, Hölzer mit Intarsien oder Metallgete­r webe. Eine wunderbar lichte und leichte Atmosphäre im Interieur schafft das elektrisch­e Panoramada­ch (2106 Euro). Und wer seine E-Klasse zum rollenden Konzertsaa­l aufrüsten will, sollte sich die gigantisch­e Burmester-Soundanlag­e gönnen (5831 Euro). Nebeneffek­t: Da hört man den Diesel wirklich nicht mehr. Ein Fest für die Sinne ist auch die Ambientebe­leuchtung, im Exklusive-Interieur-Paket für 3540 Euro erhältlich. Damit schimmert der Innenraum in der Lieblingsf­arbe; 64 stehen zur Auswahl.

Wo ist der Haken an dieser feudalen Business-Limousine? Sie ahnen es: der Preis. Die Liste startet bei 47 124 Euro für den 194-PS-Diesel. Richtig kostspieli­g wird das Vergnügen durch die Extras. Hier brachte der Testwagen das Kunststück fertig, dass der Gesamtwert der Sonderauss­tattungen den Preis des Wagens an sich überstieg. „Unser“Mercedes-Benz E 220d hätte das Konto mit 95 009,60 Euro belastet. Dagegen sind die Spareffekt­e durch den Wunder-Diesel ein Witz. Die genannte Summe ist allein mit der begründete­n Annahme zu rechtferti­gen, dass die neue E-Klasse eigentlich die bessere S-Klasse ist.

Datenblatt

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Fotos: Mercedes-Benz Ein Bild von einer Limousine: die Mercedes-Benz E-Klasse. Unter der Motorhaube des E 220d arbeitet ein neuer Spardiesel.
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Luxus pur: das volldigita­le Cockpit, eingeschla­gen in edles Leder.

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