Mittelschwaebische Nachrichten
Der Diesel ist tot, es lebe der Diesel!
Selbstzünder sind in Verruf geraten. Warum man die Antriebstechnologie trotzdem nicht abschreiben sollte, zeigt die neueste Motorengeneration in einer Mercedes-Benz E-Klasse. Der feudale Wagen hat nur einen Haken
Was hat man nicht alles Schlimmes hören und lesen müssen über den Dieselmotor in jüngster Zeit: Manche Hersteller schummelten bei den Abgaswerten wie russische Sportler bei der Dopingkontrolle. Manche Modelle stießen so viel Dreck aus, dass sie Umwelt und Gesundheit quasi im Stand ruinierten. Und überhaupt gehörten die aus der Zeit gefallenen „Stinker“aus den Innenstädten verbannt oder am besten gleich ganz verboten.
Kein gutes Klima, um in den Selbstzünder zu investieren. Mercedes-Benz hat es trotzdem oder gerade deshalb getan und rund drei Milliarden Euro in eine Motoren-Offensive gesteckt, an deren Spitze eine komplett neu entwickelte Diesel-Familie steht. Als erster Hersteller will Stuttgart schon heute die strengeren Emissionsgrenzwerte erfüllen, deren Einführung die EU für September 2017 plant. Ab dann soll nicht nur der auf dem Prüfstand gemessene, stark in der Kritik stehende Normverbrauch zählen, sondern es wird auch darauf ankommen, wie sich ein Auto im realen Verkehrsgeschehen schlägt.
80 Milligramm Stickoxid pro Kilometer dürfen die Dieselmotoren in diesem RDE genannten Zyklus maximal ausstoßen. Mercedes hat eine neue E-Klasse – das erste Fahrzeug, in dem die jüngste Motorengeneration verbaut ist – auf eine entspre- Mercedes-Benz E 220d Hubraum 1950 ccm Leistung 194 PS bei 3800/min Drehm. 400 Nm bei 1600/min Länge/B./H. 4,92/1,85/1,47 Leergewicht/Zul. 1680/640 kg Kofferraum 540 l Anhängelast gebr. 2100 kg 0–100 km/h 7,3 Sek. Top-Tempo 240 km/h Normverbrauch 3,9 l Diesel CO2-Ausstoß 102 g/km Energieeffizienzklasse A+ Preis ab 47 124 Euro chende Verbrauchsrunde geschickt und von der Dekra nachmessen lassen. Das Ergebnis dürfte selbst die schärfsten Prediger von der Deutschen Umwelthilfe besänftigen. Selbst bei ungünstigen Bedingungen lagen die NOx-Werte laut Dekra bei 13 bis 21 mg/km.
So weit die Theorie. Aber die Praxis? Wie steht es da um den Spritkonsum? Darüber soll eine Testfahrt mit einem Mercedes E 220d Aufschluss geben – 1000 Kilometer mit einer Tankfüllung (66 Li- Fassungsvermögen), davon knapp die Hälfte mit Geschwindigkeiten um 180 km/h über Autobahnen, sofern es Verkehr und Tempolimits zuließen. Am Ende zeigt der Bordcomputer im Schnitt 6,2 Liter Dieselkonsum pro hundert Kilometer an, was einem CO2-Ausstoß von 164 Gramm pro Kilometer entspricht. Von den Laborwerten (Daten siehe Kasten) mag das weit entfernt sein. Andererseits sind sechs Liter in einem solch mächtigen Auto eine kleine Sensation.
Denn – und das dürfte die Mercedes-Klientel mehr interessieren als die trockenen Fakten – das Fahrgefühl sucht seinesgleichen in der neuen E-Klasse. Im luxuriösen Innenraum fühlen sich Passagiere auf Anhieb wohl. Sanft, geschmeidig und flüsterleise gleitet der Mercedes über den Asphalt. Selbst in der „Sport“-Einstellung schluckt die Luftfederung (2261 Euro Aufpreis) nahezu jede Unebenheit.
Und der Diesel? Ist akustisch als solcher durchaus wahrzunehmen, was man kritisieren kann. Ist zwar kein Sechszylinder und kein Dreiliter, aber spontan im Antritt und kräftig im Durchzug. Ist mit 194 PS nominell nicht der Stärkste, bietet aber allzeit souveräne Fahrleistungen. Das exzellente Neungang-Automatikgetriebe (Serie) hat daran einen großen Anteil.
In der Business-Klasse ebenso wichtig wie die Motorisierung: die Ausstattung. Hier offenbart die zehnte Generation der E-Klasse eine geradezu barocke Vielfalt. Als Erstes fällt das riesige digitale Display (1012 Euro) ins Auge. Auf einer Fläche von der Größe eines Skateboards werden nicht nur alle Infotainment-Inhalte von der Navigation bis zu den Assistenten dargestellt. Auch die klassischen Zeigerinstrumente existieren „nur“als digitale Grafiken. Die Bedienung der Systeme ist ausgeklügelt. Es braucht nur wenige Tastendrucke, um beispielsweise von der Musikauswahl zur Steuerung der Massagesitze (2321 Euro) zu springen.
Mit der Wahl der Material- und Farbkombination können E-KlasseKäufer vermutlich Tage verbringen – und noch einmal einige tausend Euro investieren. Allein die Lederausstattung „Nappa nussbraun/espressobraun“im Testwagen kostete 2618 Euro zusätzlich. Neu im Programm sind offenporige Hölzer, Hölzer mit Intarsien oder Metallgeter webe. Eine wunderbar lichte und leichte Atmosphäre im Interieur schafft das elektrische Panoramadach (2106 Euro). Und wer seine E-Klasse zum rollenden Konzertsaal aufrüsten will, sollte sich die gigantische Burmester-Soundanlage gönnen (5831 Euro). Nebeneffekt: Da hört man den Diesel wirklich nicht mehr. Ein Fest für die Sinne ist auch die Ambientebeleuchtung, im Exklusive-Interieur-Paket für 3540 Euro erhältlich. Damit schimmert der Innenraum in der Lieblingsfarbe; 64 stehen zur Auswahl.
Wo ist der Haken an dieser feudalen Business-Limousine? Sie ahnen es: der Preis. Die Liste startet bei 47 124 Euro für den 194-PS-Diesel. Richtig kostspielig wird das Vergnügen durch die Extras. Hier brachte der Testwagen das Kunststück fertig, dass der Gesamtwert der Sonderausstattungen den Preis des Wagens an sich überstieg. „Unser“Mercedes-Benz E 220d hätte das Konto mit 95 009,60 Euro belastet. Dagegen sind die Spareffekte durch den Wunder-Diesel ein Witz. Die genannte Summe ist allein mit der begründeten Annahme zu rechtfertigen, dass die neue E-Klasse eigentlich die bessere S-Klasse ist.
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