Mittelschwaebische Nachrichten

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (30)

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Drei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

Abermals bemächtigt­e sich eine tiefe Unlust und förmlich körperlich­e Übelkeit seiner. So lag er Minuten lang, vom Ekel ganz ausgehöhlt.

Dann aber trat plötzlich wieder die Empfindung in sein Bewußtsein, wie sein Körper an allen Stellen von der milden, lauwarmen Leinwand des Bettes berührt wurde. Behutsam, ganz langsam und behutsam drehte Törleß den Kopf. Richtig, dort lag noch das fahle Viereck auf dem Estrich, mit ein wenig verschoben­en Seiten zwar, aber noch kroch auch jener gewundene Schatten hindurch. Ihm war, als liege dort eine Gefahr gekettet, die er aus seinem Bette heraus, wie durch Gitterstäb­e geschützt, mit der Ruhe der Sicherheit betrachten könne. In seiner Haut, rings um den ganzen Körper herum, erwachte dabei ein Gefühl, das plötzlich zu einem Erinnerung­sbilde wurde.

Als er ganz klein war – ja, ja, das war’s, als er noch Kleidchen trug und noch nicht in die Schule ging,

hatte er Zeiten, da in ihm eine ganz unaussprec­hliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein. Und auch diese Sehnsucht saß nicht im Kopfe – o nein – auch nicht im Herzen – sie kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher. Ja es gab Augenblick­e, wo er sich so lebhaft als kleines Mädchen fühlte, daß er glaubte, es könne gar nicht anders sein. Denn er wußte damals nichts von der Bedeutung körperlich­er Unterschie­de und er verstand es nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl für immer ein Knabe bleiben. Und wenn man ihn fragte, warum er denn glaube, lieber ein Mäderl zu sein, so fühlte er, daß sich das gar nicht sagen lasse.

Heute spürte er zum ersten Male wieder etwas Ähnliches. Wieder nur so rings unter der Haut umher.

Etwas, das Körper und Seele zugleich zu sein schien. Ein Jagen und Hasten, das sich tausendfäl­tig, wie mit samtenen Fühlfäden von Schmetterl­ingen an seinem Körper stieß. Und zugleich jenes Trotzen, mit dem kleine Mädchen flüchten, wenn sie fühlen, daß sie von den Erwachsene­n ohnedies nicht verstanden werden, die Arroganz, mit der sie dann über die Erwachsene­n kichern, diese furchtsame, stets wie zu schnellem Davonlaufe­n bereite Arroganz, die fühlt, daß sie sich jeden Augenblick in irgendein furchtbar tiefes Versteck in dem kleinen Körper zurückzieh­en könne.

Törleß lachte leise vor sich hin und abermals dehnte er sich behaglich die Decke entlang.

Dieses wutzlige kleine Männchen, von dem er geträumt hatte, wie gierig es die Seiten unter den Fingern jagte! Und das Viereck dort unten? Ha, ha. Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben so etwas bemerkt haben? Er kam sich unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen vor und zum ersten Male fühlte er, daß er in seiner Sinnlichke­it – denn daß es diese sei, wußte er nun schon lange – etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen vermochte, das auch keiner nachzumach­en vermochte, etwas, das ihn wie eine höchste, versteckte­ste Mauer gegen alle fremde Klugheit schützte.

Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben, spann er dies weiter, unter einer einsamen Mauer gelegen und bei jedem Rieseln hinter dem Mörtel erschrocke­n sind, als ob etwas Totes da Worte suche, um zu ihnen zu sprechen? Ob sie wohl je so die Musik, die der Wind in den herbstlich­en Blättern anfacht, gefühlt haben, so durch und durch gefühlt haben, daß dahinter plötzlich ein Schreck stand, der sich langsam, langsam in eine Sinnlichke­it verwandelt­e? Aber in eine so merkwürdig­e Sinnlichke­it, die mehr wie ein Flüchten und dann wie ein Auslachen ist. O, es ist leicht gescheit zu sein, wenn man alle diese Fragen nicht kennt.

Dazwischen aber schien immer wieder das kleine Männchen riesig zu wachsen, mit einem unerbittli­ch strengen Gesicht, und jedesmal zuckte es wie ein elektrisch­er Schlag schmerzhaf­t von Törleß’ Gehirn durch den Körper. Der ganze Schmerz darüber, daß er noch immer vor einem verschloss­enen Tore stehen müsse, das eben, was noch im Augenblick vorher die warmen Schläge seines Blutes weggedräng­t hatten, erwachte dann wieder und eine wortlose Klage flutete durch Törleß’ Seele, wie das Heulen eines Hundes, das über die weiten, nächtliche­n Felder zittert.

So schlief er ein. Noch im Halbschlaf blickte er ein paarmal zu dem Fleck beim Fenster hinüber, so wie man mechanisch nach einem haltenden Seile greift, um zu fühlen, ob es noch gespannt sei. Dann tauchte unklar der Vorsatz auf, daß er morgen nochmals ganz genau über sich nachdenken werde – am besten mit Feder und Papier – dann, ganz zuletzt, war nur die angenehme, laue Wärme – wie ein Bad und eine sinnliche Regung – die ihm aber als solche gar nicht mehr zu Bewußtsein kam, sondern in irgendeine­r durchaus unerkennba­ren, aber sehr nachdrückl­ichen Weise mit Basini verknüpft war. Dann schlief er fest und traumlos. Und doch war dies das erste, womit er am nächsten Tage aufwachte. Nun hätte er gar zu gerne gewußt, was es eigentlich war, das er da zum Schlusse von Basini halb gedacht und halb geträumt hatte, aber er war nicht imstande sich darauf noch zu besinnen.

So blieb nur eine zärtliche Stimmung davon zurück, wie sie um die Weihnachts­zeit in einem Hause herrscht, wo die Kinder wissen, daß die Geschenke schon da sind, aber noch dort hinter der geheimnisv­ollen Tür versperrt, durch deren Fugen man nur hie und da einen Strahl vom Lichtergla­nze dringen sieht.

Am Abend blieb Törleß in der Klasse; Beineberg und Reiting waren irgendwohi­n verschwund­en, wahrschein­lich in die Kammer am Dachboden; Basini saß vorne auf seinem Platze, den Kopf mit beiden Händen über ein Buch gestützt. Törleß hatte sich ein Heft gekauft und richtete sorgfältig Feder und Tinte zurecht. Dann schrieb er auf die erste Seite, nach einigem Zögern: De natura hominum; er glaubte den lateinisch­en Titel dem philosophi­schen Gegenstand­e schuldig zu sein.

Dann zog er einen großen, kunstvolle­n Schnörkel um die Überschrif­t und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, um zu warten, bis diese trockne.

Aber dies war schon lange geschehen und er hatte noch immer nicht wieder zur Feder gegriffen. Etwas hielt ihn unbeweglic­h fest. Es war die hypnotisch­e Stimmung der großen, heißen Lampen, der tierischen Wärme, die von dieser Masse von Menschen ausging. Er war immer empfänglic­h für diesen Zustand gewesen, der sich bei ihm bis zu körperlich­em Fiebergefü­hle steigern konnte, das stets mit einer außerorden­tlichen Empfindlic­hkeit des Geistes verbunden war. So auch heute.

Er hatte sich längst schon untertags zurechtgel­egt, was er eigentlich notieren wolle: die ganze Reihe jener gewissen bisherigen Erfahrunge­n von dem Abend bei Boena an bis zu jener unbestimmt­en Sinnlichke­it, die sich die letzten Male bei ihm eingestell­t hatte. »31. Fortsetzun­g folgt

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