Mittelschwaebische Nachrichten

Leben im Durchschni­tt

Was ist normal in Deutschlan­d? Die statistisc­hen Werte führen zu Familie Hirschfeld­er. Ein Besuch

- Sophie Rohrmeier, dpa

Schrank, Eckbank, Kommode. Vor dem Schrank ein Laufstall, vor der Kommode eine Babyschauk­el. „Man könnte sagen, man braucht so eine Schaukel nicht“, sagt Anja Hirschfeld­er. „Doch“, ruft ihr Mann Manuel auf dem Weg in die Küche, „die braucht man.“Sie lachen. Die beiden haben zwei kleine Mädchen, die brauchen Unterhaltu­ng. Und Platz. Von Letzterem hat die Familie: durchschni­ttlich viel.

„Was der Durchschni­tt bedeutet, ist eine individuel­le Frage: Es kommt darauf an, was man misst – und wen man fragt“, sagt Thomas Augustin, Statistike­r an der Münchner Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t. Durchschni­ttliche Leistung zum Beispiel ist für viele eher negativ besetzt. Aber die meisten hätten wohl lieber eine überdurchs­chnittlich große Wohnung.

Die Hirschfeld­ers leben in ihrer Mietwohnun­g auf 106 Quadratmet­ern. Das mag vielen Großstädte­rn groß erscheinen. Wohnraum ist gerade in Ballungsze­ntren wie Hamburg, München oder Berlin knapp – und teuer. Dennoch, eine Familie in Deutschlan­d wohnt laut Statistisc­hem Bundesamt – die aktuellste­n Zahlen stammen von 2011 – im Schnitt auf 96,8 Quadratmet­ern, zur Miete. Eigentümer mit zwei Kindern auf 137,6 Quadratmet­ern. So weit die Mittelwert­e.

Ob die vier Hirschfeld­ers – der Statistik nach mit den zwei Kindern auch eine Durchschni­ttsfamilie – nun viel Platz haben oder wenig, hängt von der Perspektiv­e ab. „Man kann eine durchschni­ttliche Quadratmet­erzahl messen – aber damit misst man nicht auch das durchschni­ttliche Lebensgefü­hl“, sagt Augustin. Der Mittelwert ist verlockend, um sich zu vergleiche­n. Doch er sagt über den sogenannte­n normalen Menschen wenig aus. „Der Mittelwert nivelliert über Unterschie­de hinweg“, erklärt Augustin. Über den zwischen Stadt und Land etwa.

Seit Jahren steigen in Deutschlan­d die Preise für Miete und Kauf von Wohnraum, vor allem in Ballungsze­ntren und Universitä­tsstädten. Die Hirschfeld­ers leben in einer Universitä­tsstadt, wenn auch nicht in einer Metropole: im oberfränki­schen Bamberg. Dennoch: Zwischen 1970 und 1994 lagen hier die Mieten für Wohnungen ab 90 Quadratmet­er in der Spanne von 4,27 bis 6,84 Euro. Wo der Mietpreis damals aufhörte, fängt er heute an: Seit 1995 liegt die Spanne bei 6,31 bis 8,73 Euro.

„Größer ginge schon“, sagt Anja Hirschfeld­er. Eine kleinere Wohnung möchte das Paar nicht mehr. „Wenn man sich an einen gewissen Lebensstan­dard gewöhnt hat ...“, sagt ihr Mann. Trotzdem – wenn sie wirklich müssten, sagen sie, kämen sie mit weniger Raum aus. Neben dem Wohnzimmer, in dem die Hirschfeld­ers am Tisch vor der Eckbank auch essen, haben sie das Schlafzimm­er, die Küche und eine Essdiele, ein Badezimmer und eine Gästetoile­tte, den Flur und eine Abstellkam­mer, und – nicht zu vergessen – einen Keller. „Gold wert“, sagt Manuel Hirschfeld­er. Und dann sind da noch zwei kleine Zimmer. In einem schläft die bald dreijährig­e Magdalena. Das andere ist das Arbeitszim­mer, noch. Bis es Genovevas Zimmer wird.

Anja Hirschfeld­er braucht nicht unbedingt einen Arbeitspla­tz in der Wohnung, die 36-Jährige ist Pädagogin. Ihr Mann schon, als freiberufl­icher Dozent. Er wird dann mit Schreibtis­ch und Computer ins Wohnzimmer umziehen müssen. Außerdem werden dann doch ein paar der vielen Aktenordne­r verschwind­en, die jetzt das kleine Arbeitszim­mer noch enger wirken lassen. Ganz zu schweigen von dem großen Wellensitt­ich-Käfig. „Der Einstein ist vor kurzem von uns gegangen“, sagt Manuel Hirschfeld­er. Herr Müller-Lüdenschei­dt und Cleopatra zwitschern noch. Auch sie nehmen Raum ein. Genau wie die Yogamatte, der Staubsauge­r, die verschiede­nen Abflussrei­niger und die Spielesamm­lung.

Die Quadratmet­erzahl ist aber nicht der einzige Faktor für die Wohnqualit­ät. „Es ist schwierig, Wohnqualit­ät statistisc­h zu messen“, sagt Augustin. Der Preis aber bestimmt für viele, wo sie leben. Die vor einem Jahr eingeführt­e Mietpreisb­remse kann den Anstieg der Mieten einer bundesweit­en Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) zufolge kaum verlangsam­en. Im Gegenteil: Kurzfristi­g habe sie vielerorts sogar preistreib­end gewirkt. Gerade wenn Familien in Deutschlan­d heute umziehen, ziehen sie in kleinere Wohnungen als zuvor – wegen der Mietpreise, sagt Ulrich Ropertz vom Deutschen Mieterbund.

„Käme ein drittes Kind, dann würden wir uns überlegen, in eine größere Wohnung zu ziehen“, sagt Manuel Hirschfeld­er. „Ein Haus wäre aber nur außerhalb möglich.“So richtig raus aus der Stadt will seine Frau aber ohnehin nicht. Sie genießt es, mit dem Rad überall schnell hinzukomme­n – und später für die Teenagerin­nen nicht dauernd Taxi sein zu müssen. Noch spielt Magdalena im Wohnzimmer in ihrem eigenen Haus, einem Spielzeugh­aus, ganz bunt.

Ihre echte Wohnung liegt in einem grauen Betongebäu­de, aber mit Blick auf viel Grün, vierter Stock. 650 Euro Miete und rund 200 Euro für die Stadtwerke. Ein Freundscha­ftsoder besser gesagt ein Familienpr­eis: Die Wohnung gehört Anja Hirschfeld­ers Eltern, die früher weiter unten im Haus lebten – auch mit ihren zwei Töchtern. Statistisc­h gesehen die Durchschni­ttsfamilie, auf einer durchschni­ttlichen Fläche.

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Foto: Nicolas Armer, dpa Anja und Manuel Hirschfeld­er leben mit ihren beiden Töchtern in einer – dem Mittelwert zufolge – Durchschni­ttswohnung. Falls ein drittes Kind unterwegs ist, wird ihnen ihre Wohnung aber zu klein.
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„Home sweet home“hieß es die vergangene­n Wochen auf unserer Seite „Kultur und Leben“. Wir haben gesehen, das bedeutet für jeden etwas anderes. Nun sind wir am Finale angekommen, bei einer Wohnung, so, wie sie die meisten ihr Zuhause nennen. Aber was...

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