Mittelschwaebische Nachrichten
Das finstere Geheimnis des Grünten
Am Fuß des markanten Berges lag vor 300 Jahren das Ruhrgebiet des Allgäus. Viele Gruben sind verschüttet, doch einige vergessene Stollen lassen die Leistung der jungen Knappen erahnen. Was der Eisenerz-Abbau von damals mit der Milchwirtschaft von heute zu
Burgberg Der Weg hinein ins finstere Labyrinth führt durch eine rotbraune Metalltür, verborgen in der Mulde einer Bergwiese. Man hört ein leises Knarzen, als Burgbergs Bürgermeister Dieter Fischer den lange verschollenen Eingang öffnet. Die Strahlen seiner Lampe tasten die ersten Meter des Stollens ab. Dahinter: ein ovales schwarzes Loch. Nun heißt es Kopf einziehen, Oberkörper vorbeugen und vorsichtig durch den leise gurgelnden Bach am Boden des 1,20 Meter hohen Ganges waten. Mit jedem Meter, mit jeder halb verschütteten Stollenkrümmung, wächst das beklemmende Gefühl, den Gesteinsmassen schutzlos ausgeliefert zu sein. Es ist dunkel, eng, feucht. Das Thermometer zeigt das ganze Jahr über neun Grad – schwer vorstellbar, dass die Bewohner Burgbergs in der Christophorusgrube Tag für Tag bis zur Erschöpfung schufteten.
Bis zu 150 Meter weit haben sich Knappen vor etwa 300 Jahren in den Berg gehauen, um an das „Gold des Allgäus“, das heiß begehrte Eisenerz, zu gelangen. Hinterlassen haben sie an der Südseite des Grünten, auf etwa 1000 Metern Höhe, eine Vielzahl von Stollen und Gruben. Zwei von ihnen können Besucher der „Erzgruben Erlebniswelt“seit 2006 gefahrlos begehen. Die meisten Relikte des historischen Bergbaus jedoch sind verschüttet – und in der Region längst vergessen. Nur wenige Eingeweihte wissen noch von ihrer Existenz.
Hobby-Geologe und Bergwachtler Siegfried Müller ist einer von ihnen. „Der Berg ist an manchen Stellen durchlöchert wie ein Schweizer Käse“, sagt der Burgberger, der als Kind trotz des strengen Verbots seiner Eltern eine der Gruben erkundet hat. Der 76-Jährige ist seit 1996 mit Bürgermeister Fischer, den Geschichtsfreunden Günther Hiederer und Werner Hofmann sowie einem Dutzend weiterer Mitstreiter maßgeblich an der Freilegung von drei Stollen beteiligt.
Ein abenteuerliches, mitunter gefährliches Unterfangen, das Jahre in Anspruch nimmt. „Meter für Meter haben wir Schlamm und Geröll abgetragen“, berichtet Fischer. „Erst mit Muskelkraft, später mit schwerem Gerät und der Hilfe einer Bergbaufirma.“Immer wieder kommt es dabei zu Rutschungen an den Eingängen. Und auch die Gruben selbst haben es in sich. Herabgestürzte Felsbrocken haben mehrere Stellen unpassierbar gemacht. Am Fuß der Stollen liegt kniehoch der Schlamm.
Weiteres Problem: der ständige Wasserzufluss durch die natürlichen Spalten und Ritzen des Grünten- gesteins. Schon damals können die Knappen die Erzflöze deshalb nur bis zu einer Tiefe von wenigen Metern unter der Stollensohle ausbeuten. Stattdessen arbeiten sie sich entlang der maximal 2,70 Meter starken, vor etwa 50 Millionen Jahren entstandenen Erzadern fast senkrecht nach oben.
Im über 200 Meter langen Abbaubereich der Christophorusgrube stürzt ein kleiner Wasserfall aus gut zehn Metern Höhe nach unten. Er bahnt sich später als Bach den Weg nach draußen. „Als wir diesen Stollen geöffnet haben, stand das Wasser brusthoch drin. Da habe ich einen Neoprenanzug angezogen und bin mit dem Kinderschlauchboot reingefahren“, erzählt Rathauschef Fischer. Einige Stellen sind so eng, dass die Gruben-Truppe nur auf dem Bauch robbend durchkommt.
Auch in der heute öffentlich zugänglichen Anna-Grube dürfen die Stollenforscher nicht zimperlich sein. „Da mussten wir uns zehn Meter senkrecht ins Dunkle abseilen, ohne einen Fixpunkt für die Seile zu haben“, sagt Werner Hofmann. „Das war alles andere als harmlos, der Berg ist ja immer in Bewegung.“Zeitweise kommt die Feuerwehr zum Einsatz. Sie bläst künstlichen Rauch in verschüttete Grubenbereiche, um weitere Zugänge zu finden und den Verlauf von Licht- und Lüftungsschächten zu erkunden.
Zuvor jedoch ist Spürsinn gefragt. Denn die Grubenzugänge, die auf einer Karte des Königlich-Bayerischen Bergamtes von 1810 verzeichnet sind, liegen unter meterhohem Geröll verborgen, sind von Wald und Wiesen überzogen oder von Alpwegen versiegelt. Geschichtsfreunde wie Günther Hiederer und Alex Müller, die die Suche nach den Stollen ins Rollen bringen, müssen erst das gesamte Gelände akribisch absuchen. Dabei liefern meist unscheinbare Bodeneintiefungen, besondere Felsformationen oder ungewöhnliche Rinnsale den entscheidenden Hinweis.
Für Fischer, der den Stollen seit 20 Jahren mit viel Herzblut nachspürt, hält dieses Engagement doppelten Lohn bereit: „Wir bewahren so ein wesentliches Stück unserer Geschichte.“Zudem erlebt er bewegende Momente: „Es ist ein beeindruckendes Gefühl, dort zu stehen, wo Menschen vor 250 Jahren unter widrigsten Bedingungen im Fels gearbeitet haben.“Dort, wo Bergmänner auf der Jagd nach dem wertvollen Rohstoff bis zu 25 Meter hohe Spalten und mehrstöckige Galerien ins Gestein treiben. Dabei arbeiten sich die Knappen auf hölzernen Plattformen nach oben. Um die entstandenen Spalten und Hohlräume im umgebenden Kalkstein oder Mergel zu stabilisieren, verkeilen sie immer wieder Rundhölzer. Mit Holzloren, also hölzernen Transportwagen, werden die Erzbrocken ins Freie geschoben.
„Auch am Grünten war der Bergbau äußerst beschwerlich und gefährlich“, sagt Hobby-Geologe Müller. Viele Knappen sind Tagelöhner, die den Erzabbau neben einer kleinen Landwirtschaft betrei- ben. „Pro Grube waren nach unserem Wissen zehn bis 15 Mann im Einsatz, dazu kamen vier bis fünf Kinder, die das gebrochene Material herausbrachten“, erläutert Fischer. Die harten Arbeitsbedingungen in den feuchten Stollen, mangelhafte Ausrüstung und schlechte Ernährung lassen die Knappen meist nur 35 bis 40 Jahre alt werden. „Die Kost der Bergleute bestand aus Gerste und Körnermus. Fleisch gab es selten“, weiß Fischer. Die bis zu 44 Knappen am Berg, die meist auf eigene Rechnung arbeiten, sind lange Zeit nicht organisiert. Erst spät wird ein „Grubenpfennig“eingeführt, der etwa bei Arbeitsunfähigkeit ausbezahlt wird.
Eine Hilfe, die vermutlich immer wieder in Anspruch genommen wird. Denn der Berg fordert seinen Tribut unter den Bergleuten – und sorgt bei den Grubenforschern der Gegenwart für Gänsehaut. So wie in einem Stollenast der Christophorusgrube, der nach 30 Metern abrupt endet. „Da ist damals die ganze Decke eingestürzt“, erzählt Siegfried Müller. Wenige Meter weiter, dort wo sich der Stollen zu einer großen Halle weitet, haben die Grubenforscher einen Bergmannschuh, ein Fläschchen und Überreste einer Lore gefunden. „Da muss etwas Schlimmes passiert sein“, sagt Müller. „Gut möglich, dass da noch immer einer drunter liegt.“
Abgebaut wird das Grüntenerz über Jahrhunderte mit Hammer und Meißel. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts kommt auch Schwarzpulver zum Einsatz. Das wird direkt in Burgberg hergestellt: Am östlichen Ortsrand entsteht 1665 eine „Pulferhütte“. Das Sprengen im Berg war eine „brandgefährliche Sache“, sagt Fischer. Immer wieder kommt es in den Stollen zu schwersten Verletzungen und Todesfällen. 1817 sterben zwei Bergleute gleichzeitig, weil ein „Schuss“zu früh losgeht. „Das war kein Wunder, denn es gab keine sicheren Zündmechanismen“, sagt Werner Hofmann.
Trotz dieser Gefahren ist das Schwarzpulver Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken: Zu dieser Zeit werden am Grünten zwischen 18000 und 50000 Zentner Erz pro Jahr gefördert, was 6000 bis 17 000 Zentner Roheisen ergibt. Den größten Ertrag erzielen die Gruben an Grünten und Ostrach im Jahr 1858: 3800 Tonnen Erz und damit 1250 Tonnen Roheisen.
Dabei werden die großen Gruben, von denen am Grünten ein gutes Dutzend bekannt ist, frühestens Ende des 17. Jahrhunderts angelegt. „Zuvor hat man das Erz im Tagebau gewonnen“, sagt Fischer. Noch heute finden sich an vielen Stellen Bodeneinschnitte. Die Bergrechte selbst sind begehrt und gehören ab dem Mittelalter teils den Augsburger Fürstbischöfen, teils den Grafen von Montfort-Rothenfels, ab 1802 dem Königreich Bayern.
Die Erzgewinnung am „Wächter des Allgäus“ist übrigens bedeutend älter, als es die erste urkundliche Erwähnung von 1471 vermuten lässt. Schlackereste, die mit römischer und hallstattzeitlicher Keramik bei Sonthofen zutage kommen, deuten auf einen Abbau seit mehr als 2000 Jahren hin. Ähnliche Hinweise gibt es auch im Königswinkel im Ostallgäu. Gesichert ist, warum der Erzabbau 1859 eingestellt wird: Mit dem Bau der Eisenbahn gelangt ab 1853 billigeres und hochwertigeres Eisen ins Oberallgäu. Das Grüntenerz mit seinem geringen Metallgehalt (20 bis 34 Prozent) und seinem hohen, für die Verarbeitung hinderlichen Phosphor- und Schwefelanteil, ist fortan nicht mal mehr im Allgäu konkurrenzfähig.
Mit dem Aus für den Erzabbau beginnt die bis dato härteste Zeit für die Region, die seit dem 16. Jahrhundert als Ruhrgebiet des Allgäus galt: Zahlreiche Schmelzwerke, Gießereien und Schmieden zwischen Blaichach, Sonthofen und Hindelang, die sich über Jahrhunderte im Schatten der Gruben auf die Weiterverarbeitung des Edelmetalls spezialisiert haben, müssen nach und nach aufgeben. Köhler, die zur Produktion der nötigen Holzkohle große Teile der Wälder an Grünten und Ostrach abgeholzt haben, sind über Nacht ohne Broterwerb. Die Grüntenregion, die in ihrer Hochzeit Werkzeuge, Haushaltswaren, Nägel, Gusseisen und Stangenwaffen in den gesamten Alpenraum exportiert, verliert einen zentralen Wirtschaftszweig.
Die Folge: Eine gewaltige Auswanderungswelle, vornehmlich ins Ruhrgebiet und in die USA. „Das war dramatisch damals“, sagt Dieter
„Der Berg ist an manchen Stellen durchlöchert wie ein Schweizer Käse.“Siegfried Müller „Die Sage vom Goldbrunnen im Grünten ist bis heute nicht totzukriegen.“Werner Hofmann
Fischer. „Am Grünten waren 800 Menschen vom Bergbau abhängig. Allein in Burgberg sind 220 Einwohner, also ein Viertel der Bevölkerung, weggezogen.“
Es folgt der Aufschwung der Milchwirtschaft, die Ära des „grünen“Allgäus beginnt. Die notdürftig verschlossenen Gruben geraten in Vergessenheit. Bis 1937. Auf der Suche nach Bodenschätzen inspizieren die Nationalsozialisten die Stollen, lassen ihre Pläne aber wegen des geringen Eisengehaltes und der zu erwartenden Fördermenge von nur 50 000 Tonnen fallen. Kurz nach dem Krieg schließlich werden alle Stolleneingänge aus Sicherheitsgründen verfüllt oder gesprengt. Eines aber hält sich auch in den folgenden Jahrzehnten hartnäckig: Die Sage vom Venediger-Männle, das durch einen geheimen Spalt in den Berg einfährt und dann mit einem Becher voll Gold verschwindet. Der aus dem Mittelalter stammende Mythos ist laut Hofmann leicht zu erklären: „Damals suchten Bergkundige aus Italien bei uns nach Mangan und Kobald zur Glasherstellung.“Dabei stoßen sie auf Pyrit (Katzengold) – die Legende vom Goldbrunnen im Grünten ist geboren.