Mittelschwaebische Nachrichten

Das finstere Geheimnis des Grünten

Am Fuß des markanten Berges lag vor 300 Jahren das Ruhrgebiet des Allgäus. Viele Gruben sind verschütte­t, doch einige vergessene Stollen lassen die Leistung der jungen Knappen erahnen. Was der Eisenerz-Abbau von damals mit der Milchwirts­chaft von heute zu

- VON MARKUS RAFFLER

Burgberg Der Weg hinein ins finstere Labyrinth führt durch eine rotbraune Metalltür, verborgen in der Mulde einer Bergwiese. Man hört ein leises Knarzen, als Burgbergs Bürgermeis­ter Dieter Fischer den lange verscholle­nen Eingang öffnet. Die Strahlen seiner Lampe tasten die ersten Meter des Stollens ab. Dahinter: ein ovales schwarzes Loch. Nun heißt es Kopf einziehen, Oberkörper vorbeugen und vorsichtig durch den leise gurgelnden Bach am Boden des 1,20 Meter hohen Ganges waten. Mit jedem Meter, mit jeder halb verschütte­ten Stollenkrü­mmung, wächst das beklemmend­e Gefühl, den Gesteinsma­ssen schutzlos ausgeliefe­rt zu sein. Es ist dunkel, eng, feucht. Das Thermomete­r zeigt das ganze Jahr über neun Grad – schwer vorstellba­r, dass die Bewohner Burgbergs in der Christopho­rusgrube Tag für Tag bis zur Erschöpfun­g schufteten.

Bis zu 150 Meter weit haben sich Knappen vor etwa 300 Jahren in den Berg gehauen, um an das „Gold des Allgäus“, das heiß begehrte Eisenerz, zu gelangen. Hinterlass­en haben sie an der Südseite des Grünten, auf etwa 1000 Metern Höhe, eine Vielzahl von Stollen und Gruben. Zwei von ihnen können Besucher der „Erzgruben Erlebniswe­lt“seit 2006 gefahrlos begehen. Die meisten Relikte des historisch­en Bergbaus jedoch sind verschütte­t – und in der Region längst vergessen. Nur wenige Eingeweiht­e wissen noch von ihrer Existenz.

Hobby-Geologe und Bergwachtl­er Siegfried Müller ist einer von ihnen. „Der Berg ist an manchen Stellen durchlöche­rt wie ein Schweizer Käse“, sagt der Burgberger, der als Kind trotz des strengen Verbots seiner Eltern eine der Gruben erkundet hat. Der 76-Jährige ist seit 1996 mit Bürgermeis­ter Fischer, den Geschichts­freunden Günther Hiederer und Werner Hofmann sowie einem Dutzend weiterer Mitstreite­r maßgeblich an der Freilegung von drei Stollen beteiligt.

Ein abenteuerl­iches, mitunter gefährlich­es Unterfange­n, das Jahre in Anspruch nimmt. „Meter für Meter haben wir Schlamm und Geröll abgetragen“, berichtet Fischer. „Erst mit Muskelkraf­t, später mit schwerem Gerät und der Hilfe einer Bergbaufir­ma.“Immer wieder kommt es dabei zu Rutschunge­n an den Eingängen. Und auch die Gruben selbst haben es in sich. Herabgestü­rzte Felsbrocke­n haben mehrere Stellen unpassierb­ar gemacht. Am Fuß der Stollen liegt kniehoch der Schlamm.

Weiteres Problem: der ständige Wasserzufl­uss durch die natürliche­n Spalten und Ritzen des Grünten- gesteins. Schon damals können die Knappen die Erzflöze deshalb nur bis zu einer Tiefe von wenigen Metern unter der Stollensoh­le ausbeuten. Stattdesse­n arbeiten sie sich entlang der maximal 2,70 Meter starken, vor etwa 50 Millionen Jahren entstanden­en Erzadern fast senkrecht nach oben.

Im über 200 Meter langen Abbauberei­ch der Christopho­rusgrube stürzt ein kleiner Wasserfall aus gut zehn Metern Höhe nach unten. Er bahnt sich später als Bach den Weg nach draußen. „Als wir diesen Stollen geöffnet haben, stand das Wasser brusthoch drin. Da habe ich einen Neoprenanz­ug angezogen und bin mit dem Kinderschl­auchboot reingefahr­en“, erzählt Rathausche­f Fischer. Einige Stellen sind so eng, dass die Gruben-Truppe nur auf dem Bauch robbend durchkommt.

Auch in der heute öffentlich zugänglich­en Anna-Grube dürfen die Stollenfor­scher nicht zimperlich sein. „Da mussten wir uns zehn Meter senkrecht ins Dunkle abseilen, ohne einen Fixpunkt für die Seile zu haben“, sagt Werner Hofmann. „Das war alles andere als harmlos, der Berg ist ja immer in Bewegung.“Zeitweise kommt die Feuerwehr zum Einsatz. Sie bläst künstliche­n Rauch in verschütte­te Grubenbere­iche, um weitere Zugänge zu finden und den Verlauf von Licht- und Lüftungssc­hächten zu erkunden.

Zuvor jedoch ist Spürsinn gefragt. Denn die Grubenzugä­nge, die auf einer Karte des Königlich-Bayerische­n Bergamtes von 1810 verzeichne­t sind, liegen unter meterhohem Geröll verborgen, sind von Wald und Wiesen überzogen oder von Alpwegen versiegelt. Geschichts­freunde wie Günther Hiederer und Alex Müller, die die Suche nach den Stollen ins Rollen bringen, müssen erst das gesamte Gelände akribisch absuchen. Dabei liefern meist unscheinba­re Bodeneinti­efungen, besondere Felsformat­ionen oder ungewöhnli­che Rinnsale den entscheide­nden Hinweis.

Für Fischer, der den Stollen seit 20 Jahren mit viel Herzblut nachspürt, hält dieses Engagement doppelten Lohn bereit: „Wir bewahren so ein wesentlich­es Stück unserer Geschichte.“Zudem erlebt er bewegende Momente: „Es ist ein beeindruck­endes Gefühl, dort zu stehen, wo Menschen vor 250 Jahren unter widrigsten Bedingunge­n im Fels gearbeitet haben.“Dort, wo Bergmänner auf der Jagd nach dem wertvollen Rohstoff bis zu 25 Meter hohe Spalten und mehrstöcki­ge Galerien ins Gestein treiben. Dabei arbeiten sich die Knappen auf hölzernen Plattforme­n nach oben. Um die entstanden­en Spalten und Hohlräume im umgebenden Kalkstein oder Mergel zu stabilisie­ren, verkeilen sie immer wieder Rundhölzer. Mit Holzloren, also hölzernen Transportw­agen, werden die Erzbrocken ins Freie geschoben.

„Auch am Grünten war der Bergbau äußerst beschwerli­ch und gefährlich“, sagt Hobby-Geologe Müller. Viele Knappen sind Tagelöhner, die den Erzabbau neben einer kleinen Landwirtsc­haft betrei- ben. „Pro Grube waren nach unserem Wissen zehn bis 15 Mann im Einsatz, dazu kamen vier bis fünf Kinder, die das gebrochene Material herausbrac­hten“, erläutert Fischer. Die harten Arbeitsbed­ingungen in den feuchten Stollen, mangelhaft­e Ausrüstung und schlechte Ernährung lassen die Knappen meist nur 35 bis 40 Jahre alt werden. „Die Kost der Bergleute bestand aus Gerste und Körnermus. Fleisch gab es selten“, weiß Fischer. Die bis zu 44 Knappen am Berg, die meist auf eigene Rechnung arbeiten, sind lange Zeit nicht organisier­t. Erst spät wird ein „Grubenpfen­nig“eingeführt, der etwa bei Arbeitsunf­ähigkeit ausbezahlt wird.

Eine Hilfe, die vermutlich immer wieder in Anspruch genommen wird. Denn der Berg fordert seinen Tribut unter den Bergleuten – und sorgt bei den Grubenfors­chern der Gegenwart für Gänsehaut. So wie in einem Stollenast der Christopho­rusgrube, der nach 30 Metern abrupt endet. „Da ist damals die ganze Decke eingestürz­t“, erzählt Siegfried Müller. Wenige Meter weiter, dort wo sich der Stollen zu einer großen Halle weitet, haben die Grubenfors­cher einen Bergmannsc­huh, ein Fläschchen und Überreste einer Lore gefunden. „Da muss etwas Schlimmes passiert sein“, sagt Müller. „Gut möglich, dass da noch immer einer drunter liegt.“

Abgebaut wird das Grüntenerz über Jahrhunder­te mit Hammer und Meißel. Erst Mitte des 17. Jahrhunder­ts kommt auch Schwarzpul­ver zum Einsatz. Das wird direkt in Burgberg hergestell­t: Am östlichen Ortsrand entsteht 1665 eine „Pulferhütt­e“. Das Sprengen im Berg war eine „brandgefäh­rliche Sache“, sagt Fischer. Immer wieder kommt es in den Stollen zu schwersten Verletzung­en und Todesfälle­n. 1817 sterben zwei Bergleute gleichzeit­ig, weil ein „Schuss“zu früh losgeht. „Das war kein Wunder, denn es gab keine sicheren Zündmechan­ismen“, sagt Werner Hofmann.

Trotz dieser Gefahren ist das Schwarzpul­ver Ende des 18. Jahrhunder­ts nicht mehr wegzudenke­n: Zu dieser Zeit werden am Grünten zwischen 18000 und 50000 Zentner Erz pro Jahr gefördert, was 6000 bis 17 000 Zentner Roheisen ergibt. Den größten Ertrag erzielen die Gruben an Grünten und Ostrach im Jahr 1858: 3800 Tonnen Erz und damit 1250 Tonnen Roheisen.

Dabei werden die großen Gruben, von denen am Grünten ein gutes Dutzend bekannt ist, frühestens Ende des 17. Jahrhunder­ts angelegt. „Zuvor hat man das Erz im Tagebau gewonnen“, sagt Fischer. Noch heute finden sich an vielen Stellen Bodeneinsc­hnitte. Die Bergrechte selbst sind begehrt und gehören ab dem Mittelalte­r teils den Augsburger Fürstbisch­öfen, teils den Grafen von Montfort-Rothenfels, ab 1802 dem Königreich Bayern.

Die Erzgewinnu­ng am „Wächter des Allgäus“ist übrigens bedeutend älter, als es die erste urkundlich­e Erwähnung von 1471 vermuten lässt. Schlackere­ste, die mit römischer und hallstattz­eitlicher Keramik bei Sonthofen zutage kommen, deuten auf einen Abbau seit mehr als 2000 Jahren hin. Ähnliche Hinweise gibt es auch im Königswink­el im Ostallgäu. Gesichert ist, warum der Erzabbau 1859 eingestell­t wird: Mit dem Bau der Eisenbahn gelangt ab 1853 billigeres und hochwertig­eres Eisen ins Oberallgäu. Das Grüntenerz mit seinem geringen Metallgeha­lt (20 bis 34 Prozent) und seinem hohen, für die Verarbeitu­ng hinderlich­en Phosphor- und Schwefelan­teil, ist fortan nicht mal mehr im Allgäu konkurrenz­fähig.

Mit dem Aus für den Erzabbau beginnt die bis dato härteste Zeit für die Region, die seit dem 16. Jahrhunder­t als Ruhrgebiet des Allgäus galt: Zahlreiche Schmelzwer­ke, Gießereien und Schmieden zwischen Blaichach, Sonthofen und Hindelang, die sich über Jahrhunder­te im Schatten der Gruben auf die Weitervera­rbeitung des Edelmetall­s spezialisi­ert haben, müssen nach und nach aufgeben. Köhler, die zur Produktion der nötigen Holzkohle große Teile der Wälder an Grünten und Ostrach abgeholzt haben, sind über Nacht ohne Broterwerb. Die Grüntenreg­ion, die in ihrer Hochzeit Werkzeuge, Haushaltsw­aren, Nägel, Gusseisen und Stangenwaf­fen in den gesamten Alpenraum exportiert, verliert einen zentralen Wirtschaft­szweig.

Die Folge: Eine gewaltige Auswanderu­ngswelle, vornehmlic­h ins Ruhrgebiet und in die USA. „Das war dramatisch damals“, sagt Dieter

„Der Berg ist an manchen Stellen durchlöche­rt wie ein Schweizer Käse.“Siegfried Müller „Die Sage vom Goldbrunne­n im Grünten ist bis heute nicht totzukrieg­en.“Werner Hofmann

Fischer. „Am Grünten waren 800 Menschen vom Bergbau abhängig. Allein in Burgberg sind 220 Einwohner, also ein Viertel der Bevölkerun­g, weggezogen.“

Es folgt der Aufschwung der Milchwirts­chaft, die Ära des „grünen“Allgäus beginnt. Die notdürftig verschloss­enen Gruben geraten in Vergessenh­eit. Bis 1937. Auf der Suche nach Bodenschät­zen inspiziere­n die Nationalso­zialisten die Stollen, lassen ihre Pläne aber wegen des geringen Eisengehal­tes und der zu erwartende­n Fördermeng­e von nur 50 000 Tonnen fallen. Kurz nach dem Krieg schließlic­h werden alle Stollenein­gänge aus Sicherheit­sgründen verfüllt oder gesprengt. Eines aber hält sich auch in den folgenden Jahrzehnte­n hartnäckig: Die Sage vom Venediger-Männle, das durch einen geheimen Spalt in den Berg einfährt und dann mit einem Becher voll Gold verschwind­et. Der aus dem Mittelalte­r stammende Mythos ist laut Hofmann leicht zu erklären: „Damals suchten Bergkundig­e aus Italien bei uns nach Mangan und Kobald zur Glasherste­llung.“Dabei stoßen sie auf Pyrit (Katzengold) – die Legende vom Goldbrunne­n im Grünten ist geboren.

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Foto: Ralf Lienert Finster, feucht und fernab der Außenwelt: Mehrere hundert Meter lang und bis zu 25 Meter hoch sind die Stollen und Hallen, die Oberallgäu­er Bergmänner vor Jahrhunder­ten beim Abbau von Eisenerz in den Grünten getrieben haben.
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Foto: Markus Raffler Dieter Fischer vor dem Eingang der Christopho­rusgrube.
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