Mittelschwaebische Nachrichten
Sehschwäche mit Folgen
Ab dem sechsten Lebensmonat sollte bei einem normal entwickelten Kind der Parallelstand der Augen aufrechterhalten werden. Andernfalls ist eine frühe Therapie wichtig
Tübingen Bei den Mayas galt das Schielen als Schönheitsideal. Sie banden den Kindern eine Harzkugel ins Haar, die über die Stirn fiel und immer wieder von den Augen fixiert wurde. So kam es schließlich zum Schielen, das an den Sonnengott erinnern sollte. In unserer aufgeklärten Welt entspricht das Schielen längst nicht mehr dem Begriff von Schönheit, aber es wird vielfach als niedlicher „Silberblick“oder „Engelsblick“verharmlost. Dabei ist eine frühe Schielbehandlung wichtig, damit spätere Sehstörungen vermieden werden. Die häufigste Form des Strabismus – wie das Schielen im Fachjargon genannt wird – ist die frühkindliche Form, die vor dem sechsten Lebensmonat beginnt.
Neugeborene Babys nehmen ihre Umwelt noch verschwommen wahr. „Auch wenn alle Voraussetzungen für die volle Sehschärfe bei Geburt prinzipiell angelegt sind, muss das Sehen erst durch Seheindrücke gelernt werden“, erklärt Dorothea Besch, Leiterin der Sektion KinderAugenheilkunde an der Augenklinik der Universität Tübingen. „Die sensible Phase dazu reicht etwa bis zum 6. Lebensjahr.“Rechtzeitig zum Schuleintritt ist dieser Prozess bei den meisten Kindern abgeschlossen. Schon von Geburt an kann der Säugling seine Augen mithilfe von jeweils sechs Muskeln, die außen am Auge angreifen, in alle Richtungen bewegen – wenn auch zunächst noch ruckartig und unkontrolliert.
In den nächsten Monaten sorgen die beteiligten Hirnareale dafür, dass die parallele Ausrichtung der Augen aufrechterhalten wird. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu einem zeitweisen oder dauernden Schielen. Das Kind richtet dann nur ein Auge auf den fixierten Gegenstand, während das andere Auge nach innen oder nach außen wandert. Nur das fixierende Auge liefert dem Gehirn den richtigen Seheindruck, wohingegen das schielende Auge ein abweichendes Bild produziert. Dieses kann das Gehirn mit dem Bild des gerade stehenden Auges nicht in Übereinstimmung bringen, weshalb es sehr schnell beginnt, die Botschaft des schielenden Auges zu unterdrücken. Dadurch wird dieses Auge nicht mehr gefordert und quasi arbeitslos. So entwickelt sich auch die Sehschärfe nicht weiter, das Auge wird bzw. bleibt schwachsichtig. Ohne Behandlung werden etwa 90 Prozent aller Schielkinder mit dem schielenden Auge niemals scharf sehen können. Ein weiterer Nachteil kommt hinzu: Da kein beidäugiges Sehen besteht, kann sich auch kein hochwertiges räumliches Sehen entwickeln.
In Mitteleuropa leiden bis zu sieben Prozent aller Kinder an einem behandlungsbedürftigen Strabismus. Seit die Kinderärzte genauer hinschauen, hat sich die Zahl in den letzten Jahren leicht erhöht. Da das Schielen in manchen Familien gehäuft vorkommt, ist auch eine erbliche Komponente beteiligt. Wenn beide Eltern schielen – oder wegen Schielens behandelt wurden – , be- für die Kinder die Wahrscheinlichkeit, den gleichen Augenfehler zu haben, über 50 Prozent. Sie liegt bei über 20 Prozent, wenn Bruder oder Schwester schielen. Der häufigste Auslöser ist eine einseitige oder beidseitige Fehlsichtigkeit, meist handelt es sich um eine stärkere Weitsichtigkeit. In diesem Fall ist der Augapfel um eine Winzigkeit zu kurz geraten. Das Gehirn veranlasst deshalb die Augenmuskeln, die Augenlinse stärker zu krümmen, wenn sie scharf sehen soll. Diese Krümmung bewirkt aber gleichzeitig, dass sich das Auge nach innen zur Nase hin dreht. Eine Brille, die die Fehlsichtigkeit korrigiert, ist unbedingt nötig. Andere Ursachen können Virusinfektionen vor oder nach der Geburt sowie Entwicklungsstörungen in diesem Zeitraum sein. Gerade Frühgeborene oder Risikobabys sollten deshalb auch auf Schielen oder andere Sehstörungen hin untersucht werden.
Das Ausmaß des Schielens kann sehr unterschiedlich sein. Doch egal, ob der Silberblick nur schwach oder stark ausgebildet ist, wichtig ist eine frühzeitige Therapie. „Das frühkindliche Innenschielen tritt in den ersten Lebensmonaten auf“, meint Dorothea Besch. „Ab dem 6. Lebensmonat sollte bei einem normal entwickelten Kind ein Parallelstand der Augen aufrechterhalten werden. Besteht der Verdacht einer Schiel-Sehschwäche, sollte möglichst bald mit der Therapie begonnen werden“, empfiehlt sie. Bei rechtzeitiger Behandlung kann bei einem großen Prozentsatz der Kinder die Schwachsichtigkeit verhindert werden.
Eltern, die den Verdacht haben, ihr Baby könnte schielen, sollten deshalb nicht zögern, mit ihm zum Augenarzt zu gehen, damit eine Frühbehandlung eingeleitet werden kann. Die Therapie des Strabismus richtet sich nach der Ursache und dem Schweregrad. „Liegt ein Brechungsfehler des Auges zugrunde, muss dieser durch eine Brille behoben werden“, so Besch. „Auch Babys im ersten Lebensjahr können bereits eine Brille tragen.“Um die Schwachsichtigkeit des schielenden Auges zu behandeln, ist eine Abdeckoder Okklusionstherapie nötig. Dabei wird das gesunde, nicht schielende Auge zeitweilig durch ein Pflaster abgedeckt und damit für das Gehirn ausgeschaltet. Jetzt ist das schielende Auge allein für das Sehen zuständig und wird deshalb vom Gehirn wieder verstärkt wahrgenommen. Die frühere Abschaltung des Auges wird auf diese Weise nach und nach rückgängig gemacht, die Sehschärfe wird trainiert. Alle drei Monate sollte das Kind zur Kontrolle zum Augenarzt.
In den meisten Fällen ist beim frühkindlichen Schielen eine Operation an den Augenmuskeln sinnvoll, dies vor allem wegen der ästhetischen Beeinträchtigung – die häufig zu Hänseleien führt – , aber auch bei Störungen in der allgemeinen Entträgt wicklung des Kindes. „Die Operation sollte aber erst nach der Behandlung der Sehschwäche durchgeführt werden, denn die OP selbst verbessert das Sehen nicht“, betont die Augenärztin Besch. „Die einzige Möglichkeit, das Sehen zu trainieren, ist die Versorgung mit Brillengläsern und – falls erforderlich – die Okklusionstherapie. Diese sollte vorher weitgehend abgeschlossen sein.“Üblicherweise wird der Eingriff im Jahr vor der Einschulung vorgenommen. „Dann ist durch die bessere Kooperation des Kindes eine genauere Schielwinkelausmessung vor der Operation möglich und damit das operative Ergebnis besser planbar.“Wenn nämlich nach der OP noch eine kleine Abweichung übrig bleibt, die häufig nicht auffällt, dann bleibt auch das Risiko bestehen, dass das schielende Auge nicht trainiert und in der Folge trotz Operation schwachsichtig wird.
Die Schieloperation gilt als ein sehr sicheres Verfahren und wird in Vollnarkose ausgeführt. Entgegen vielen Schauermärchen wird dabei weder das Auge herausgenommen noch wird der Augapfel aufgeschnitten. Der Arzt öffnet lediglich die Bindehaut, die auf dem Augapfel liegt, um an die darunter liegenden Augenmuskeln zu gelangen. Diese werden verkürzt oder so versetzt, dass beide Augen gerade stehen. Danach wird die Bindehaut mit einer feinen Naht wieder verschlossen. Kinder, die vor der Operation eine Brille tragen mussten, müssen diese in den meisten Fällen auch nach dem Eingriff weiter tragen.
Ausmaß kann sehr unterschiedlich sein