Mittelschwaebische Nachrichten
Erfolgsbuch mit abwesender Autorin
Die literarische Welt liegt im Bann eines Pseudonyms: Elena Ferrante. Von der Italienerin ist nun auch in Deutschland der erste Band der neapolitanischen Saga um zwei Freundinnen erschienen. Die Geschichte eines Hypes
Neapel, 50er Jahre, zwei kleine Mädchen, beide klug, eines aber klüger! Mehr muss man im Moment nicht sagen, es reicht eigentlich schon das Stichwort Neapel, um zu wissen, von welchem Roman die Rede ist. Um keinen anderen wurde ja auch in diesem Jahr ein solcher Wirbel gemacht. Seit wenigen Tagen nun liegt „Meine geniale Freundin“von Elena Ferrante in den Buchhandlungen. Der SuhrkampVerlag hatte den Erscheinungstermin vorgezogen, nachdem der Roman bereits im Literarischen Quartett des ZDF diskutiert wurde und die Erwartungshaltung wohl nicht mehr zu steigern war. Ein Hype, wie man ihn sich als Autor wie Verleger schöner nicht wünschen kann.
Der Rummel kommt nicht überraschend. Verwunderlich – und was die deutsche Verlagsszene betrifft, auch gewissermaßen rätselhaft – ist eigentlich nur, dass er in Deutschland so lange auf sich warten ließ. Der Roman, erster Teil eines vierbändigen Epos, ist schließlich nicht neu. Ein Bestseller in Italien seit fünf Jahren, in Amerika grassiert das Ferrante-Fieber spätestens seit 2013, befeuert durch hymnische Kritiken unter anderem im New Yorker und der New York Times. Unter dem Hashtag ferrantefever bekennen sich seitdem auch Prominente aller Couleur zur FerranteSucht, unter anderem die Schauspielerin Gwyneth Paltrow.
Die Autorin selbst ist in all dem Wirbel nicht sichtbar – sondern lediglich als Stimme gelegentlich zu vernehmen, wenn sie eines ihrer seltenen schriftlichen Interviews gibt wie zuletzt dem Spiegel. Elena Ferrante nämlich ist ein Pseudonym. Wer sich dahinter verbirgt, wissen ihre italienischen Verleger, der Rest der literarischen Welt rätselt voller Leidenschaft und begibt sich aufgrund von dürren Angaben der Autorin auf die Spurensuche, die dann auch mal in die Irre zu einem italienischen Schriftsteller oder zu einer Geschichtsprofessorin führen, die empört oder auch geehrt dementierten.
Das also weiß man: Elena Ferrante heißt Elena, ist wie ihre Ich-Erzählerin in Neapel geboren, war verheiratet, lebt nun alleine und hat erwachsene Kinder. Warum sie sich vor 25 Jahren bei ihrem ersten Roman für die Anonymität entschied? Aus Unsicherheit, sagte sie in einem Interview mit der Paris Review, und weil sie die Menschen, die ihr als Vorbilder dienen, schützen wollte. Im Spiegel erklärte sie es nun so: „Ich glaube, dass Bücher nur sich selbst brauchen und dass sie sich ihre Leser selbst suchen müssen. Das ist der ganze Grund für meine Abwesenheit.“Leser gesucht, Leser gefunden! Über eine Million Mal soll sich die Tetralogie bereits weltweit verkauft haben. Der Suhrkamp-Verlag, der 2012 auf die Rechte geboten hatte, vor zwei Jahren schließlich dann den Zuschlag erhielt, startete mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren.
Und damit zum Roman! Der kaum mehr unbeeinflusst von all den Lobpreisungen zu lesen ist, sozusagen schon mit dem Prädikat „Weltliteratur“hier ausgeliefert wird. In der Huffington Post war die Rede vom „ersten wahren Klassiker des 21. Jahrhunderts“, die Washington Post schrieb „Elena Ferrante ist für Neapel, was Charles Dickens für London gewesen ist“. Was die Anziehungskraft für Touristen betrifft, scheint die Einschätzung auf jeden Fall zu stimmen. Die ersten Restaurants in Neapel bieten für die stetig anwachsende Zahl von Literaturgroupies bereits eine Ferrante-Pizza an. Wobei es durchaus auch andere, fast trotzig klingende Rezensentenmeinungen gibt, in denen gar das Wort Kitsch fällt.
Was also nun? Überschätzter Unterhaltungsroman? Berührende Erinnerung im Format von Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“? Oder doch ein epochales literarisches Werk? Um es einmal ganz schlicht zu sagen: Der Roman ist gut. Er strotzt vor Leben. Und Ferrante erweist sich als eine Erzählerin mit einem wunderbaren Gespür für die kleine Szene, in der sie Großes verpackt. Zu Beginn lässt sie die zwei ungleichen Freundinnen, die im von Gewalt und Armut geprägten Stadtviertel aufwachsen, gemeinsam mit ihren Puppen im Hof spielen: Elena Greco und Raffaella Cerullo. Die eine Lenù, die andere von allen Lina genannt, von der Freundin aber Lila.
Lenù, die Ich-Erzählerin, ist die zaghaftere von beiden. Lila dagegen ist rebellisch, forsch und genial: Mit drei Jahren hat sie sich das Lesen selbst beigebracht, das Leben betrachtet sie als große Verheißung. Ein Mädchen, das in ihrer mutigen Wildheit Astrid Lindgren für ihre Pippi Langstrumpf hätte Vorbild stehen können. Im Hof, in einer ersten Annäherung, tauschen die beiden Puppen. Dann wirft Lila die Puppe von Lenù in den Kellerschacht. Und die andere, die am liebsten weinen würde angesichts dieser Gemeinheit, dieses Unglücks, nimmt die Herausforderung an: Wirft auch die andere Puppe hinterher. Gemeinsam wagen sie sich schließlich in den Keller, um ihr Spielzeug zu retten…
So beginnt diese Freundschaft, an der Konstellation aber ändert sich nichts: Die eine ist der anderen immer voraus, wagt mehr, will mehr. Und erfährt die Ungerechtigkeit des Lebens früh. Denn während die brave Lenù auf die höhere Schule wechseln darf, auch wenn die Mutter den Werdegang der Tochter eher mit Argwohn und Missfallen begleitet, muss die hochbegabte Lila die Schule bald verlassen, der Mutter im Haushalt und dem Vater in der Schusterwerkstatt helfen. Heimlich bringt sie sich Latein bei, später auch Altgriechisch und Englisch und wird zur eifrigsten Benutzerin der öffentlichen Bücherei.
Lenù aber lebt das Leben, das Lila führen will, doch es erscheint ihr schal und leer, wenn sie es nicht mit der Freundin teilen kann, es nicht von deren Energie befeuert wird. Sobald sich Lila entfernt, so empfindet es die Pförtnertochter, „wurden die Dinge fleckig, staubig“. Für Lenù führt der Weg über die Bildung unweigerlich aus dem Viertel hinaus, Lila hingegen sucht stattdessen die Flucht zumindest in den Wohlstand durch eine frühe Ehe…
Auf über vierhundert Seiten schildert Ferrante diese Freundschaft, in der einmal die Liebe, dann die Rivalität Oberhand gewinnt, begleitet voller Empathie für das Erwachsenwerden der Mädchen, und sie bettet diese Geschichte ein in ein opulent gezeichnetes Fresko von Neapel zur Nachkriegszeit. Mit seinem Figurenreichtum, seiner bildhaften Sprache, dem geschickten Verweben von Szenen ruft das Werk geradezu nach einer seriellen Verfilmung – bereits in acht Teilen geplant fürs italienische Fernsehen.
Trivial? Meisterhaft? Doch eher Letzteres. Bis 2017 will der Suhrkamp-Verlag die drei weiteren Bände folgen lassen, mehr als 1500 Seiten umfasst die Saga, in der Ferrante ihren Heldinnen auf dem Weg weiblicher Selbstfindung folgt. Der letzte Band war für den Man Booker International Prize nominiert. Wer den ersten in der fabelhaften Übersetzung von Karin Krieger nun noch vor sich hat, möge sich freuen: Es öffnet sich ihm ein mitreißendes Buch und darin eine ganze Welt! Gute Literatur eben.
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp, 422 Seiten, 22 ¤