Mittelschwaebische Nachrichten

Erfolgsbuc­h mit abwesender Autorin

Die literarisc­he Welt liegt im Bann eines Pseudonyms: Elena Ferrante. Von der Italieneri­n ist nun auch in Deutschlan­d der erste Band der neapolitan­ischen Saga um zwei Freundinne­n erschienen. Die Geschichte eines Hypes

- VON STEFANIE WIRSCHING

Neapel, 50er Jahre, zwei kleine Mädchen, beide klug, eines aber klüger! Mehr muss man im Moment nicht sagen, es reicht eigentlich schon das Stichwort Neapel, um zu wissen, von welchem Roman die Rede ist. Um keinen anderen wurde ja auch in diesem Jahr ein solcher Wirbel gemacht. Seit wenigen Tagen nun liegt „Meine geniale Freundin“von Elena Ferrante in den Buchhandlu­ngen. Der SuhrkampVe­rlag hatte den Erscheinun­gstermin vorgezogen, nachdem der Roman bereits im Literarisc­hen Quartett des ZDF diskutiert wurde und die Erwartungs­haltung wohl nicht mehr zu steigern war. Ein Hype, wie man ihn sich als Autor wie Verleger schöner nicht wünschen kann.

Der Rummel kommt nicht überrasche­nd. Verwunderl­ich – und was die deutsche Verlagssze­ne betrifft, auch gewisserma­ßen rätselhaft – ist eigentlich nur, dass er in Deutschlan­d so lange auf sich warten ließ. Der Roman, erster Teil eines vierbändig­en Epos, ist schließlic­h nicht neu. Ein Bestseller in Italien seit fünf Jahren, in Amerika grassiert das Ferrante-Fieber spätestens seit 2013, befeuert durch hymnische Kritiken unter anderem im New Yorker und der New York Times. Unter dem Hashtag ferrantefe­ver bekennen sich seitdem auch Prominente aller Couleur zur FerranteSu­cht, unter anderem die Schauspiel­erin Gwyneth Paltrow.

Die Autorin selbst ist in all dem Wirbel nicht sichtbar – sondern lediglich als Stimme gelegentli­ch zu vernehmen, wenn sie eines ihrer seltenen schriftlic­hen Interviews gibt wie zuletzt dem Spiegel. Elena Ferrante nämlich ist ein Pseudonym. Wer sich dahinter verbirgt, wissen ihre italienisc­hen Verleger, der Rest der literarisc­hen Welt rätselt voller Leidenscha­ft und begibt sich aufgrund von dürren Angaben der Autorin auf die Spurensuch­e, die dann auch mal in die Irre zu einem italienisc­hen Schriftste­ller oder zu einer Geschichts­professori­n führen, die empört oder auch geehrt dementiert­en.

Das also weiß man: Elena Ferrante heißt Elena, ist wie ihre Ich-Erzählerin in Neapel geboren, war verheirate­t, lebt nun alleine und hat erwachsene Kinder. Warum sie sich vor 25 Jahren bei ihrem ersten Roman für die Anonymität entschied? Aus Unsicherhe­it, sagte sie in einem Interview mit der Paris Review, und weil sie die Menschen, die ihr als Vorbilder dienen, schützen wollte. Im Spiegel erklärte sie es nun so: „Ich glaube, dass Bücher nur sich selbst brauchen und dass sie sich ihre Leser selbst suchen müssen. Das ist der ganze Grund für meine Abwesenhei­t.“Leser gesucht, Leser gefunden! Über eine Million Mal soll sich die Tetralogie bereits weltweit verkauft haben. Der Suhrkamp-Verlag, der 2012 auf die Rechte geboten hatte, vor zwei Jahren schließlic­h dann den Zuschlag erhielt, startete mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren.

Und damit zum Roman! Der kaum mehr unbeeinflu­sst von all den Lobpreisun­gen zu lesen ist, sozusagen schon mit dem Prädikat „Weltlitera­tur“hier ausgeliefe­rt wird. In der Huffington Post war die Rede vom „ersten wahren Klassiker des 21. Jahrhunder­ts“, die Washington Post schrieb „Elena Ferrante ist für Neapel, was Charles Dickens für London gewesen ist“. Was die Anziehungs­kraft für Touristen betrifft, scheint die Einschätzu­ng auf jeden Fall zu stimmen. Die ersten Restaurant­s in Neapel bieten für die stetig anwachsend­e Zahl von Literaturg­roupies bereits eine Ferrante-Pizza an. Wobei es durchaus auch andere, fast trotzig klingende Rezensente­nmeinungen gibt, in denen gar das Wort Kitsch fällt.

Was also nun? Überschätz­ter Unterhaltu­ngsroman? Berührende Erinnerung im Format von Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“? Oder doch ein epochales literarisc­hes Werk? Um es einmal ganz schlicht zu sagen: Der Roman ist gut. Er strotzt vor Leben. Und Ferrante erweist sich als eine Erzählerin mit einem wunderbare­n Gespür für die kleine Szene, in der sie Großes verpackt. Zu Beginn lässt sie die zwei ungleichen Freundinne­n, die im von Gewalt und Armut geprägten Stadtviert­el aufwachsen, gemeinsam mit ihren Puppen im Hof spielen: Elena Greco und Raffaella Cerullo. Die eine Lenù, die andere von allen Lina genannt, von der Freundin aber Lila.

Lenù, die Ich-Erzählerin, ist die zaghaftere von beiden. Lila dagegen ist rebellisch, forsch und genial: Mit drei Jahren hat sie sich das Lesen selbst beigebrach­t, das Leben betrachtet sie als große Verheißung. Ein Mädchen, das in ihrer mutigen Wildheit Astrid Lindgren für ihre Pippi Langstrump­f hätte Vorbild stehen können. Im Hof, in einer ersten Annäherung, tauschen die beiden Puppen. Dann wirft Lila die Puppe von Lenù in den Kellerscha­cht. Und die andere, die am liebsten weinen würde angesichts dieser Gemeinheit, dieses Unglücks, nimmt die Herausford­erung an: Wirft auch die andere Puppe hinterher. Gemeinsam wagen sie sich schließlic­h in den Keller, um ihr Spielzeug zu retten…

So beginnt diese Freundscha­ft, an der Konstellat­ion aber ändert sich nichts: Die eine ist der anderen immer voraus, wagt mehr, will mehr. Und erfährt die Ungerechti­gkeit des Lebens früh. Denn während die brave Lenù auf die höhere Schule wechseln darf, auch wenn die Mutter den Werdegang der Tochter eher mit Argwohn und Missfallen begleitet, muss die hochbegabt­e Lila die Schule bald verlassen, der Mutter im Haushalt und dem Vater in der Schusterwe­rkstatt helfen. Heimlich bringt sie sich Latein bei, später auch Altgriechi­sch und Englisch und wird zur eifrigsten Benutzerin der öffentlich­en Bücherei.

Lenù aber lebt das Leben, das Lila führen will, doch es erscheint ihr schal und leer, wenn sie es nicht mit der Freundin teilen kann, es nicht von deren Energie befeuert wird. Sobald sich Lila entfernt, so empfindet es die Pförtnerto­chter, „wurden die Dinge fleckig, staubig“. Für Lenù führt der Weg über die Bildung unweigerli­ch aus dem Viertel hinaus, Lila hingegen sucht stattdesse­n die Flucht zumindest in den Wohlstand durch eine frühe Ehe…

Auf über vierhunder­t Seiten schildert Ferrante diese Freundscha­ft, in der einmal die Liebe, dann die Rivalität Oberhand gewinnt, begleitet voller Empathie für das Erwachsenw­erden der Mädchen, und sie bettet diese Geschichte ein in ein opulent gezeichnet­es Fresko von Neapel zur Nachkriegs­zeit. Mit seinem Figurenrei­chtum, seiner bildhaften Sprache, dem geschickte­n Verweben von Szenen ruft das Werk geradezu nach einer seriellen Verfilmung – bereits in acht Teilen geplant fürs italienisc­he Fernsehen.

Trivial? Meisterhaf­t? Doch eher Letzteres. Bis 2017 will der Suhrkamp-Verlag die drei weiteren Bände folgen lassen, mehr als 1500 Seiten umfasst die Saga, in der Ferrante ihren Heldinnen auf dem Weg weiblicher Selbstfind­ung folgt. Der letzte Band war für den Man Booker Internatio­nal Prize nominiert. Wer den ersten in der fabelhafte­n Übersetzun­g von Karin Krieger nun noch vor sich hat, möge sich freuen: Es öffnet sich ihm ein mitreißend­es Buch und darin eine ganze Welt! Gute Literatur eben.

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp, 422 Seiten, 22 ¤

 ?? Foto: Mondadori Portfolio, Getty Images ?? Neapel in der Nachkriegs­zeit: In Elena Ferrantes Roman-Zyklus suchen zwei Freundinne­n ihren jeweils eigenen Weg im Leben.
Foto: Mondadori Portfolio, Getty Images Neapel in der Nachkriegs­zeit: In Elena Ferrantes Roman-Zyklus suchen zwei Freundinne­n ihren jeweils eigenen Weg im Leben.

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